DIE DEMO GEGEN RECHTS SUGGERIERT POLITISCHES HANDELN: Kein anständiger Aufstand
Gestern sollte dem 9. November, diesem fatalen deutschen Datum, eine weitere Bedeutung eingeschrieben werden: Tag des Aufstandes der Anständigen. Das hat schon etwas Provozierendes, denn das deutsche Leid ist ja nun mal, dass dieses Land nie einen anständigen Aufstand, keine wirkliche Revolution zustande gebracht hat. Stattdessen immer nur Aufstände der Anständigen.
Legt man die verschiedenen signifikanten deutschen 9. Novembertage übereinander, wie Muster auf transparentem Papier, ergibt sich das Bild einer misslungen politischen Geburt, das ein Aufstand der Anständigen nicht ausradieren kann:
1918 eine halbherzige, schließlich gescheiterte Revolution. Hitler machte seit seinem Marsch auf die Feldherrnhalle den 9. November 1923 in München zum Symboltag seiner „Bewegung“. Die Pogromnacht 1938 sprach für jeden, der hören und sehen konnte, die Wahrheit des Nazismus aus: Hass und Vernichtung. Ein Jahr später misslang in der Nacht zum 9. November der Anschlag von Johann Georg Elser auf Hitler. 1967 wurde im Audimax der Hamburger Universität an diesem Tag das Transparent „Unter den Talaren – Muff von 1.000 Jahren“ entrollt. Sieben Jahre nach dem Beginn des antiautoritären Protestes war es wieder ein 9. November, an dem der RAF Aktivist Holger Meins nach seinem Hungerstreik starb. Dann der 9. November 1989, rauschhafte Nacht einer so euphorischen wie kurzen deutschen Revolution – mit den bekannten, gemischten Folgen.
Auch in Frankreich fällt ein Geschichtsdatum auf den 9. November. Am 18. Brumaire, das war der 9. November 1799, erklärte Napoleon: „Die Revolution ist zu Ende.“ Immerhin hatte sie dort stattgefunden. In Deutschland gingen Revolutionen immer zu Ende, bevor sie begonnen hatten.
Ist der 9. November der Tag der immer wieder abgetriebenen deutschen Revolution? Ist dieser Hass, der immer wieder folgte, nicht das fatale Gift, das von ungelebtem Leben abgesondert wird?
Der Hass ist ein böses Kind der Ohnmacht, sagte der katholische Philosoph Robert Spaemann einmal und erinnerte daran, dass der große Pazifist Mahatma Gandhi zeitlebens meinte: Gewalt ist besser als Hass und Feigheit – aber es gelte Gewalt, diese gewissermaßen rohe Form des Handelns, zu überwinden. Es komme darauf an, aus den Zirkeln von Unterdrückung, Ohnmacht und Gewalt auszusteigen, ohne aufs Handeln zu verzichten.
Gestern hat nun die Mitte der Gesellschaft gehandelt und den Rechtsradikalismus angeprangert. Daran gäbe es nichts zu mäkeln, wenn dieser Protest, der die Hasstäter marginalisieren sollte, die Wurzeln des Hasses in Deutschland nicht durch die fromme Anstandsdemonstration verdeckt hätte. Diese Wurzeln liegen in unserer fatalen Tradition, die selbstständiges Handeln verdächtigt, individuell wie politisch, in der Schule wie in der Partei.
Statt den 9. November zum Tag der Politik, das heißt der Differenz und des Zusammenschlusses, zu machen, folgte die formierte Demo der Richtigen und Guten dem alten deutschen Traum einer formierten Gesellschaft wie einst bei Erhard.
Die blinde Gewalt und der kalte Hass sind die Ultima Irratio der Unfähigkeit zu handeln und des fatalen Mangels mit der Erfahrung, selbst wirksam werden zu können. Handeln verstand Hannah Arendt – im Gegensatz zu Arbeit und Herstellen – als Tätigkeit von Menschen, die realisiert haben, dass jeder von ihnen in der Welt an einer Stelle steht, an der noch nie ein anderer stand. Deshalb heißt Handeln Neues zu beginnen und dabei immer unsicheren Boden zu betreten. Handel verlangt zugleich, wie sie schrieb, „Politik als das Zusammenhandeln der Menschen“. So entstehe Macht, die „von Mögen kommt“.
Handlungsmöglichkeiten zu schaffen heißt nicht, oder nicht in erster Linie, Jugendfreizeitheime & Co. Zum Handeln kann man so wenig überreden wie zur Spontaneität oder dazu, mit dem Hassen aufzuhören. Zum Handeln, das diesen Namen verdient, kann man nur anstecken. Diese ansteckende Gesundheit politischen Handelns zu verbreiten, mit Lust an ihr und mit Liebe zur Welt, nicht zu verwechseln mit der zombiehaften Politiker-Politik auf den Bühnen der Macht und auch nicht dem „Gib Gas, ich will Spaß“, das wäre die Antwort auf die gestrigen, ewiggestrigen und uns mit Sicherheit noch einige Zeit auch bleibenden Rechtsradikalen. REINHARD KAHL
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