DFB vor Auftakt in Katar: Zerbröselte Gewissheiten
Am Mittwoch startet Deutschland gegen Japan in die Fußball-WM. Die DFB-Elf muss sich dabei daran gewöhnen, nicht mehr Turniermannschaft zu sein.
Dass „Die Mannschaft“ 2018 schon in der Vorrunde nach Niederlagen gegen Mexiko und Südkorea scheiterte und auch bei der Euro 2021 (eigentlich 2020) nicht weiter als bis ins Achtelfinale gegen England (0:2) kam, zeigt einen Trend auf: Das DFB-Team ist in einer Umbruchphase, die auch dieses Turnier zu einer Camera obscura macht.
Welches Bild in der Lochkamera entsteht, ist noch ungewiss, genauso wie die Stabilität der Abwehr, über die in den letzten Tagen häufig gesprochen wurde. Wie arrangiert Bundestrainer Hansi Flick die Defensive? Wie geht er damit um, dass er keinen kompakten Bayern-Block mehr hinten reinstellen kann? Setzt er eher auf offensive Außenverteidiger? Wie es scheint, wird Flick Niklas Süle und Antonio Rüdiger die Innenverteidigung überlassen, rechts außen könnte Thilo Kehrer auflaufen, links David Raum.
Flick braucht Erfahrung und Solidität, das hat auch das letzte WM-Vorbereitungsspiel der DFB-Elf im Oman gezeigt, wo Raum, Ginter, Kehrer und Klostermann (von links nach rechts) mit der Torverhinderung betraut waren, aber einen eher wackligen Eindruck machten. Dem Überangebot an hochtalentierten offensiven Kräften, vor allem im Mittelfeld, steht eine Defensivabteilung gegenüber, deren Schlagkraft hinterfragt wird.
„Schöne Atmosphäre“
Rüdiger, Profi bei Real Madrid, spielt auf höchstem Niveau, wie vorher schon beim FC Chelsea, ist aber immer für einen Ausrutscher gut. Niklas Süle, vor Saisonbeginn vom FC Bayern zu Borussia Dortmund gewechselt, begann die Spielzeit mit einer Muskelverletzung und wurde von BVB-Trainer Edin Terzić ein paar Mal auf die Position des rechten Außenverteidigers gestellt. Auch Kehrer gibt an, alles spielen zu können. Überhaupt wollen sie alle da brav ihre Arbeit tun, wo sie vom Bundestrainer hingestellt werden, sagen sie, allzeit bereit zur großen Defensivrochade.
Vor der Abwehr steht ein Duo, das über jeden Zweifel erhaben ist: Joshua Kimmich und Leon Goretzka als defensive Mittelfeldstrategen. Davor hat Flick die Qual der Wahl. Er wird wohl nach der Verletzung von Leroy Sané auf Serge Gnabry, Thomas Müller und Jamal Musiala zurückgreifen; das Bayern-Trio ist verlässlich und eingespielt. Ganz vorn: Kai Havertz vom FC Chelsea. Aber geht es ohne klassischen Stürmer wirklich?
Jamal Musiala sieht das alles „sehr relaxt“: „Wir haben das Mindset, diese WM zu gewinnen“, sagt er unbekümmert. „Wir haben völliges Vertrauen in unsere Stärke“, assistiert Thilo Kehrer. Und Süle meint: „Wir haben einiges gutzumachen.“ Am Dienstag ist das DFB-Team zum ersten Mal nach Doha gefahren, hat das Teamquartier im Norden von Katar verlassen, das Stadion von Al Shamal, das wie eine Burg aussieht, das feine Zulal Welness Resort, wo der DFB-Tross vier Pavillons bewohnt und sich vom Stress mit Tischtennis, Basketball, Spielkonsolen und allerlei anderen Vergnügungen erholt. „Da können wir uns eine schöne Atmosphäre machen“, sagt Torwart Manuel Neuer. Die kennt er schon vom ebenfalls weit abgelegenen WM-Quartier aus dem Jahr 2014.
Im brasilianischen Santo André gedieh der Traum vom WM-Titel, fernab der Ströme und Hektik. Die Quartierwahl folgt wohl wieder dem Schema F des optimalen Turnierdesigns. In idyllischer Abgeschiedenheit muss nämlich reifen, was der Deutschen größtes Pfund ist: „Eine deutsche Mannschaft lebt immer von der Gruppe“, sagt DFB-Geschäftsführer Oliver Bierhoff. Und aus Gruppen werden in Splendid Isolation Turniermannschaften, also vielleicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Benjamin Netanjahu
Er wird nicht mehr kommen
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin