DER GERICHTSHOF FÜR MENSCHENRECHTE LEHNT STERBEHILFE AB: Todkranke ohne letzte Hilfe
Aus deutscher Sicht hätte es sicher angemessenere Momente gegeben, um über das Recht auf den eigenen Tod zu sprechen. Doch wenn die Bestürzung über den Amoklauf von Erfurt abgeklungen ist, wird auch bei uns die Debatte um eine Neuregelung der Sterbehilfe wieder aufflammen. Die gestrige Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte stellt jedenfalls keinen Schlusspunkt der Diskussion dar. Im Fall einer todkranken Britin entschied der Gerichtshof, dass sie kein Recht hat, ihren Wunsch auf einen selbstbestimmten Tod gegen die britische Gesetzgebung durchzusetzen. Die Europäische Menschenrechtskonvention war in diesem Fall faktisch neutral. Weder ließ sich mit ihrer Hilfe das britische Verbot der Beihilfe zum Selbstmord aushebeln. Noch steht sie einer vorsichtigen Liberalisierung der Sterbehilfe wie in den Niederlanden im Weg. Es ist vielmehr Aufgabe jedes einzelnen Staates – und damit der Parlamente –, zu entscheiden, wie hier der Schutz des Lebens und die Achtung der persönlichen Autonomie in Einklang zu bringen sind. Gerade in derart komplexen Fragen ist eine breite gesellschaftliche Debatte einem überraschungsartigen Richterspruch vorzuziehen.
Und dass diese Debatte nötig ist, hat der britische Fall mehr als deutlich gemacht. Diane Pretty ist eben alles andere als eine schwache Kranke, die anderen nicht mehr zur Last fallen will. Sie kämpft vielmehr mutig um ihr Recht auf Selbstbestimmung. Und ihre Angehörigen, ihr Mann Brian sowie die beiden volljährigen Kinder, sind ihrer nicht überdrüssig, sondern standen ihr in diesem langen Rechtsstreit engagiert zur Seite.
Es ist offensichtlich, dass in einer solchen Konstellation der abstrakte Lebensschutz keinen Vorrang vor der Achtung der Würde und Autonomie eines kranken Menschen haben kann. Vielmehr ist es zynisch, an Todkranken zusätzlich zu all ihrer Belastung noch moralische Exempel zu statuieren. Zu Recht verweisen die Gegner der Sterbehilfe zwar auf medizinische Möglichkeiten der Schmerztherapie. Und sicher ist für viele Kranke die Angst vor den Qualen eines langsamen Todes der Hauptgrund für den Wunsch nach einem schnellen Ende. Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass einer Frau wie Diane Pretty die medizinischen Möglichkeiten bekannt sind und sie dennoch nicht miterleben will, wie sie langsam erstickt. Es muss eben beides geben: besser zugängliche Schmerztherapien und eine Möglichkeit für selbstbestimmte Kranke, den Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen. Der Hinweis auf Missbrauchsmöglichkeiten darf nicht jede Reform blockieren, sonst ist er selbst missbräuchlich.
CHRISTIAN RATH
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