Czollek und Salzmann im HKW: Das Ende des „postmigrantischen Jahrzehnts“
Bei der letzten Folge der Reihe „Der Anfang ist nah“ im HKW spricht Max Czollek mit Sasha Salzmann über Verzweiflung – und Handlungsmöglichkeiten.
Das Best-Case-Szenario: „Berlin ist zu einer Migrationsinsel geworden, die von allen verlassen wurde, die darauf keinen Bock haben – und zu einer Stadt, die alle Menschen, Liebes- und Lebensformen integriert.“ So fasst Sasha Marianna Salzmann die eigene Vision eines utopischen Berlins zusammen.
Salzmann ist Autor*in, Essayist*in und Dramatiker*in. Am Mittwochabend ist Salzmann zu Gast in der letzten Folge der Gesprächsreihe „Der Anfang ist nah“ des Lyrikers Max Czollek im Haus der Kulturen der Welt (HKW). Der Titel mag angesichts der katastrophalen Weltlage kontraintuitiv wirken – aber darum geht es: die Krise als Ausgangspunkt zu nehmen, um anders und besser weiterzumachen.
Salzmann zeigt, wie sich Verzweiflung in Energie umwandeln lässt: „Jetzt wo wir wissen, dass wir nichts mehr zu verlieren haben, darf der Kampf auch Spaß machen!“ Die Entwicklung der deutschen Gesellschaft beobachtet Salzmann mit Sorge: Rassismus ist auf einem Höhepunkt und der Dominanzgesellschaft sei es egal. Als Menschen mit Migrationsgeschichte könnten sie sich auf den Kopf stellen; wenn die Mehrheit der Gesellschaft nicht mitzieht, werde sich nichts bewegen. „Und das tut sie nicht.“
Salzmann, geboren in Wolgograd, wuchs als geflüchtetes Kind in einem deutschen Asylheim auf. Später zog Salzmann nach Berlin und begann 2008 ein Studium im Szenischen Schreiben an der Universität der Künste (UdK). Durchgezogen habe Salzmann nur, weil zu der Zeit das Ballhaus Naunynstraße in Kreuzberg öffnete – ein „postmigrantisches Theater“. Heute könne man das Wort kaum noch hören, damals sei es revolutionär gewesen.
Das Ende des postmigrantischen Jahrzehnts
Salzmann spricht von einem „postmigrantischen Jahrzehnt“: Eine Phase des Hoffnungsschimmers, in der es so schien, als würde sich diese Gesellschaft als eine pluralistische verstehen. Diese Jahre seien nun vorbei. Die „Mode“, Menschen mit Migrationshintergrund einzustellen oder ihnen Raume zu öffnen, sei vorbei, sind sich Czollek und Salzmann einig. Aber: „Wir sind keine Modeerscheinung. Das ist unser Leben.“
Salzmann kritisiert: „Es wird alles gekürzt, was links ist, nach queer, postkolonial oder migrantisch riecht.“ Dabei handele es sich nicht um zwingende, sondern um „ideologische Kürzungen“. Betroffen sind unter anderem das Ballhaus Naunynstraße, das womöglich schließen muss, sowie das Maxim-Gorki-Theater. Dort geht auch die Intendanz von Shermin Langhoff, der Begründerin des „postmigrantischen Theaters“, nach dieser Spielzeit zu Ende.
Am Gorki veranstalteten Salzmann und Czollek, beide jüdisch, 2016 den „Desintegrationsgipfel“ – einen „Kongress zeitgenössischer jüdischer Positionen“, und 2017 die „Radikalen Jüdischen Kulturtage“. Ziel der Veranstaltungen war es, sich von gesellschaftlichen Zuschreibungen zu lösen und Distanz zu den Fremdkonstruktionen in Deutschland nach 1945 zu gewinnen.
Im Gesprächen kritisieren Czollek und Salzmann, dass die Union das „Nie wieder“ nutze, um rechte (Asyl)politiken zu legitimieren. Im Zuge dessen wird auch die Fördergeldaffäre der Berliner CDU verurteilt, bei der Gelder für kulturelle Projekte gegen Antisemitismus teils an ihr eigenes Umfeld vergeben wurden.
Tokens, um Diversität zu erwecken
Für Salzmann steht fest: Nun zeige sich, dass es der deutschen Dominanzgesellschaft egal gewesen sei, welche Impulse sie mit ihren künstlerischen und gesellschaftlichen Interventionen gesetzt haben. Vielmehr seien sie als Tokens benutzt worden, also als Repräsentant*innen ihrer Gruppe eingesetzt, um den Anschein von Diversität zu erwecken. Salzmann fasst sich auch an die eigene Nase: „Wir waren so mit Quoten beschäftigt, dass wir nicht tief genug in die Dominanzgesellschaft eingedrungen sind.“
Doch die Veränderungen, die es heute brauche, seien vielmehr ökonomische und sozialstaatliche, als künstlerische. Ihre Aufgabe als Künstler*innen sei es, „forensische Architektur für die Emotionen unserer Zeit zu schaffen“ – und jetzt erst recht! Dazu benötige es mehr Zusammenarbeit zwischen linken und migrantischen Gruppen.
Was Salzmann sich für die Zukunft wünscht: „Politischen Aufwind – nicht nur in der Kulturbranche. Im besten Falle haben die Kürzungen Narben hinterlassen, aber wir haben neue Räume gefunden, die mehr als eine Nabelschau waren.“
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