: Currywurst und Cappuccino
Eine Kultur der Lebenslust, Rückgrat jeder gereiften Zivilisation, hat sich in Preußen nie herausgebildet. Unter den Folgen leiden die Deutschen bis heute: Sie sind hemmungslos hedonistisch oder grenzenlos enthaltsam. Zum rechten Maß fehlt die Gelassenheit
von RALPH BOLLMANN
Den Mann am Nebentisch beobachtete der Schriftsteller mit wachsendem Ekel. Das erste Erdbeertörtchen war schnell unter dem schmalen Schnurrbart verschwunden. Ein zweites folgte rasch, „dann ein drittes – wenn es nicht schon das vierte war“. Angesichts der „halb infantilen, halb raubtierhaften Gefräßigkeit“ Adolf Hitlers verschlug es dem stillen Beobachter den Appetit. Ein bloßer Zufall hatte dem Autor Klaus Mann an diesem Nachmittag des Jahres 1932 die Feindbeobachtung in einem Münchner Café ermöglicht. Aber konnte es ein Zufall sein, dass sich Hitler beim Essen nicht anders verhielt als im Umgang mit Menschen und Völkern?
Nicht nur einem Feingeist aus intellektuellem Hause musste die Maßlosigkeit des künftigen Diktators missfallen. Auch Verfechter des alten Preußentums zeigten sich indigniert – galt ihnen das Maßhalten doch als die wichtigste aller preußischen Tugenden. Bereits mit der Reichsgründung 1871, glaubt etwa die Zeit-Herausgeberin Marion Gräfin Dönhoff, sei „das kühle Maßhalten früherer Zeiten“ in „moderne Maßlosigkeit“ abgeglitten.
Doch der „neue“ Verlust an Selbstkontrolle hatte dieselbe Wurzel wie das „alte“ Übermaß an Disziplin: Beide Phänomene entsprangen dem Mangel an zivilisatorischen Bindungen, der Deutschland noch heute von seinen west- und südeuropäischen Nachbarn trennt. Die Ess- und Trinkgewohnheiten der meisten Deutschen unterscheiden sich kaum von dem Verhalten, das Adolf Hitler in jenem Münchner Café an den Tag legte. Dass es in der Bundesrepublik so viele Übergewichtige gibt wie nirgends sonst im westlichen Europa, führen Experten auf „unkontrolliertes und ungeordnetes Essverhalten bezüglich Nahrungsmenge, Nahrungszusammensetzung, Tischregeln und Essenszeiten“ zurück.
Kurz: Der Deutsche isst und trinkt, was, wann und wo er will. Er weigert sich, die Aufnahme von Nahrung und Getränken durch die Konventionen der Zivilisation reglementieren zu lassen. Schon der frühere Bundeskanzler Helmut Kohl pflegte seine Entourage zur Verzweiflung zu treiben, wenn er zur unpassendsten Zeit auf einen Cafébesuch drängte. Aber auch jene Deutschen, die sich vorzugsweise von Insalata Caprese oder Mousse au Chocolat ernähren, haben ihre Essgewohnheiten nur sehr oberflächlich internationalisiert. In der Alltagskultur sind die Deutschen jenen „langen Weg nach Westen“ noch nicht zu Ende gegangen, auf dem sie – so die These des Historikers Heinrich August Winkler – politisch schon angekommen sind.
Das zeigt sich spätestens dann, wenn Deutsche ins Ausland fahren. Dass man ein „Restaurant“ oder „Ristorante“ nicht mitten am Nachmittag aufsuchen kann, um dort einen einzelnen Gang zu verzehren – damit wollen sich auch viele der vermeintlich weltläufigen Deutschen nicht abfinden. Dass es den Koch beleidigt, den Geschmack seines Essens mit einem Cappuccino hinunterzuspülen, können sie ebenso wenig verstehen. Das Problem ist nicht, dass die Touristen mit den speziellen Gepflogenheiten des jeweiligen Landes nicht vertraut sind. Das kann jedem passieren, und solche Regeln lassen sich schnell erlernen. Das Problem ist: Viele Deutsche können nicht akzeptieren, dass es solche Regeln überhaupt gibt.
Kaum ein Land verfügt heute über eine derart anarchische Alltagskultur wie Deutschland. In den europäischen Nachbarländern gilt diese Regellosigkeit vielfach noch immer als „barbarisch“. Dass sie zunehmend als attraktiv empfunden wird, zeigt der große Zustrom vor allem junger Europäer insbesondere nach Berlin – einer Stadt, die wie keine andere dieses „wilde“ Deutschland verkörpert.
Die Frage ist nur: Wie konnte es innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem solch grundlegenden Imagewandel kommen? Was bewirkte den Abschied vom alten Bild des Deutschen, das geprägt war von sturer Disziplin? Ganz einfach: Der Hang zur Anarchie und der Hang zu blindem Gehorsam haben ihre gemeinsame Ursache in einem Mangel an kulturellen Konventionen, die den Alltag ganz selbstverständlich strukturieren, ohne ihn einzuengen. „Die Deutschen lieben die Ordnung“, glaubt der russische Journalist und Deutschlandkenner Maxim Gorski, „weil sie in den tiefsten Abgründen ihres Herzens eigentlich Anarchisten sind.“
Die oft geschmähten „Sekundärtugenden“ erlebten deshalb ihre zweifelhafte Blüte gerade dort, wo Deutschland am wenigsten zivilisiert war – in Preußen. Die Römer waren in die Gebiete jenseits von Rhein und Donau nicht vorgedrungen; selbst in den Kosmos des christlichen Mittelalters trat die Mark Brandenburg erst verspätet ein. Ackerbau und Viehzucht waren mühsam, Handel und Gewerbe unterentwickelt, das Land war weit, die Städte waren klein. Unter diesen Umständen waren „preußische“ Tugenden wie Sparsamkeit, Enthaltsamkeit, Disziplin schlicht lebensnotwendig. Die Modernisierung des Landstrichs war nur in einem geradezu übermenschlichen Kraftakt möglich. In dieser Atmosphäre dauernder Überanstrengung konnte die Gelassenheit der alten Kulturnationen nicht heimisch werden, die Zivilisation blieb ein aufgepfropfter Importartikel – bis hin zu den architektonischen Italienimitaten der Schinkel-Ära, die im märkischen Ambiente ein seltsam unterkühltes Flair verbreiten.
Unter diesen Vorzeichen wurden die „Sekundärtugenden“ zum Selbstzweck. Im Maßhalten waren die protestantischen Preußen maßlos. Es gab, anders als vor allem in den katholischen Ländern, kein Ventil, um innerhalb geregelter Bahnen dem Lustprinzip frönen zu können. Alles war auf Entbehrung angelegt, die Freude an den kleinen Dingen, an den alltäglichen Ritualen blieb den Preußen fremd. Es fehlte an einer Kultur der Lebenslust. Das war eine der Ursachen für jene fatalen Ersatzhandlungen im politischen Raum, die später so viel Anklang fanden.
Bei den Eliten mag sich daran einiges geändert haben, doch bei den kleinen Leuten ist der kulturelle Graben vor allem zu den romanischen Ländern noch immer tief. In Frankreich oder Italien ist es für das Wahlvolk selbstverständlich, dass ein Politiker – und sei er auch Kommunist – etwas vom guten Leben verstehen muss. Gerhard Schröder hingegen sammelte nur Minuspunkte, als er öffentlich bekannte, er wisse „einen guten Wein von einem schlechten zu unterscheiden“. Als er auch noch im Brioni-Anzug posierte, war er bei den Deutschen vollends unten durch. Erst die Rückkehr zu einem proletarischen Currywurstimage leitete den Wiederaufstieg in der Wählergunst ein.
Allerdings hatte die Art, wie Schröder seinen Hedonismus zur Schau stellte, wenig mit dem romanischen Lustprinzip gemein: Es fehlte die Selbstverständlichkeit des Lebensstils, die sich nicht erlernen lässt. Wenn das System der Bedürfnisverweigerung nicht funktionierte, legten die Preußen eine Furcht einflößende Hemmungslosigkeit an den Tag – etwa in der Person des Bier saufenden Cholerikers Friedrich Wilhelm I., des „Soldatenkönigs“.
Nicht einmal sein Sohn, der vermeintlich „große“ Friedrich, taugt als Gegenbeispiel. Zwar pflegte er in der Kunst das rechte Maß, doch als Staatsmann stürzte er das Land in gigantische militärische Abenteuer. Als Beleg für die endgültige Zivilisierung Preußens taugen auch nicht jene Reformen, mit denen weitsichtige Minister einige Jahrzehnte später der napoleonischen Herausforderung begegneten. Denn dieses Modernisierungsprogramm war in seiner Rigidität nur in einem traditionslosen Land wie Preußen möglich. Nur deshalb konnte die Reform von oben glücken und die Revolution von unten ausbleiben – mit fatalen Spätfolgen für die Herausbildung eines demokratischen Selbstbewusstseins.
Je weiter die „verspätete Nation“ fortan hinter dem westeuropäischen Fahrplan zurückblieb, desto größer wurden die – individuellen wie kollektiven – Minderwertigkeitskomplexe. Was in Preußen-Deutschland vor allem fehlte, war jene selbstgewisse Gelassenheit, ohne die das rechte Maß kaum zu finden ist. Gerade die „gelassenen“ Formen der politischen Artikulation, der politische Liberalismus und der aufgeklärte Konservativismus, waren in Deutschland traditionell schwach. Die preußischen „Konservativen“ waren zuletzt nicht konservativ, sondern maßlos reaktionär – und führten ihren Staat deshalb in den Untergang. Die Gelassenheit, mit der ein französischer Aristokrat wie Alexis de Tocqueville den unaufhaltsamen Siegeszug der Demokratie einfach hinnahm, war ihnen vollständig fremd.
Der preußische Staat ist im Zweiten Weltkrieg untergegangen – doch es dauerte noch Jahrzehnte, bis die Bundesdeutschen die Attitüde westlicher Gelassenheit erlernten. Ob es mehr ist als eine Attitüde? Schwer zu sagen. Gehen Sie doch einfach ins Café, und zählen Sie nach, wie viele Erdbeertörtchen Ihre Tischnachbarn verspeisen.
RALPH BOLLMANN, 31, gebürtiger Pfälzer, lebt als taz-Redakteur im preußischen Exil. Cappuccino trinkt er allenfalls zum Frühstück
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