Culture Clash im Indischen Ozean: Was verbindet uns mit anderen?
Roulèr-Trommeln, Future-Kwaito und ein japanisches Spaceship: Eindrücke von der IOMMA-Musikmesse und dem Sakifo-Festival auf La Réunion.
Mächtige Trommelschläge, so tief wie das Grollen der tropischen Gewitter, die über La Réunion hinwegziehen. Diese Roulèr-Trommeln gehören auf dem kleinen Vulkaneiland im Indischen Ozean von jeher zur Maloya-Musik. Beim Auftritt der Band Lindigo zum Indian Ocean Music Market (IOMMA) hallen die tiefen Bässe einer Roulèr durch das Teátre Luc Donat.
Es ist noch gar nicht so lange her, da wäre ein solcher Ort der Hochkultur für ein Maloya-Konzert undenkbar gewesen. Denn noch bis Ende der 1970er Jahre wurden diese zunächst auf den Zuckerrohrfeldern von Sklaven aus Afrika gesungenen Klagelieder von den französischen Autoritäten unterdrückt.
Der rebellische Maloya wurde von der Kommunistischen Partei Réunions unterstützt und galt als Ausdruck des Kampfes für die Unabhängigkeit von Frankreich. „Früher konnte Maloya nur versteckt bei Zeremonien im privaten Rahmen praktiziert werden“, sagt der Lindigo-Sänger Olivier Araste. „Dass wir immer noch das Kreolische statt des Französischen benutzen, ist aber ein Zeichen unserer eigenen Identität.“
Wie sich der Maloya seit den Achtzigern ausdifferenziert hat, zeigt sich bei den Messe-Showcases und dem Sakifo Festival direkt danach: von der Sängerin Maya Kamaty (Nu Maloya) und Bands wie Labelle und Sofaz (Electro Maloya) bis hin zur Anfang sechzigjährigen Diva Nathalie Nathiembé. In einem grün schimmernden Kostüm legt die Nina Hagen Réunions ein Art-Rock-Set mit düsteren Texten hin, die von Schizophrenie und ihrer Angst vorm Tod handeln.
Für La Réunion ist der IOMMA wichtige Gelegenheit zum Vernetzen, mit Blick auf den weiten Raum des Indischen Ozeans. Geladen sind überwiegend Gäste aus dem Musikgeschäft Afrikas und Asiens, in beiden Kontinente wachsen die Märkte. Und die Vielvölkerinsel Réunion, die schon geografisch zwischen den Welten liegt und auf der Menschen aus drei Kontinenten leben, ist für ein solches Treffen tatsächlich kein schlechter Ort.
Réunion gehört zur EU
Die Frage der Unabhängigkeit spielt heute keine Rolle mehr – auch weil die Bewohner des französischen Überseedepartements von den finanziellen Zuwendungen aus Europa profitieren. So kommt es einem im beschaulichen Strandort St. Pierre ziemlich „francy“ vor.
Bezahlt wird mit Euro, es gibt schicke Bistros, kaum Straßenkriminalität, und sogar das Leitungswasser kann man bedenkenlos trinken. Die Insel gehört zu Frankreich – und damit zur EU. Folglich gibt es mittlerweile mehrspurige Schnellstraßen, jeder, der es sich leisten kann (es sind zu viele), fährt ein Auto, und Staus sind häufig.
Erstaunlich ist, wie höflich und respektvoll die Menschen nach dem ersten Eindruck miteinander umgehen. Das ist wohl auch ein Verdienst der eigentümlichen „métissage“. Menschen mit Wurzeln in Mosambik und Madagaskar, Frankreich und Indien, darunter Muslime, Hindi und Christen, haben sich entweder vermischt oder leben weitgehend friedlich zusammen.
Der Muezzin der Moschee ist mehrfach am Tag zu hören, um die Ecke liegt ein Hindu-Tempel, und in den Restaurants stehen Gerichte mit Curry, Mango und Ingwer auf der Karte.
Das zieht auch Einwanderer wie Guillaume an. Der Festlandfranzose lebt seit zwanzig Jahren auf Réunion – fast die Hälfte seines Lebens. Seine Frau ist eine schwarze Kreolin aus Mauritius. Einer ihrer Söhne sehe wie ein junger Marokkaner aus, sagt Guillaume, der andere mit seinem blonden Haar wie ein kleiner Schwede. „Wenn ich meine Söhne frage, welche Hautfarbe einer ihrer Freunde hat, wissen die keine Antwort.“ Weil alle unterschiedlich aussehen, habe das einfach keine Bedeutung mehr.
Unwillkürlich kommt einem hier Achille Mbembe in den Sinn. Der kamerunische Philosoph sieht in mehr Gemeinschaft und Solidarität statt ausgrenzender Identitätspolitiken den einzigen Ausweg: „Die entscheidende Frage unserer Zeit ist ja, was uns mit anderen verbindet, die nicht ’wir’ sind. Denn eigentlich sind ja alle von den gleichen Problemen betroffen.“
Ist Réunion nun eine Art Trauminsel der „Hybridité“ unter Palmen? Selbstverständlich nicht, sagt der Rapper Axel Sorres. Rund ein Drittel der Bevölkerung ist ohne Arbeit, viele leben von Sozialhilfe – was laut Sorres seinen Preis hat: „Damit erkauft sich Frankreich das Schweigen der Leute.“ Auch die Dichterin und Sängerin Kaloune beschäftigt sich mit ihrer kreolischen Identität und den Schattenseiten ihrer Heimat.
„Schwarze und dunkelhäutige Kreolen sind in vielen gesellschaftlichen Bereichen immer noch weitgehend unsichtbar“, sagt die Spoken-Word-Künstlerin nach ihrem Konzert zum IOMMA-Auftakt. Kalounes Song „Tapoulang“ hat auf La Réunion für einige Aufregung gesorgt. Übersetzt aus dem Kreolischen bedeutet der Titel „Vagina“. „Ich spreche von der Kraft, die ich in mir spüre, denn über weibliche Sexualität wird bei uns sonst immer noch nicht offen geredet“.
Zeitgemäßer Sound und Stil
Kämpferische, selbstbewusste Frauen treten auffallend viele auf – neben Kaloune und der indonesischen Rapperin Yacko auch die Sängerin Nonku Phiri. Die zierliche Frau mit der glasklaren Stimme gehört zur vibrierenden elektronischen Musikszene Südafrikas.
Im Herbst wird Phiri mit ihrem Partner Dion Monti das erste Album mit ihrem experimentellen R&B-Elektro veröffentlichen: „Um die Unabhängigkeit zu behalten auf unserem eigenem Label Black Albino. Dort will ich auch andere junge Musiker rausbringen, die unnötigerweise Mainstream-Produktionen machen, obwohl ihr eigener Sound global Wellen schlagen könnte.“
Ohnehin kommen Sound und Stil am Puls der Zeit bei der IOMMA-Messe aus dem südlichen Afrika: Kommanda Obbs aus Lesotho mit teils selbstironischen Raggamuffin, dessen Band traditionelle Basotho-Umhänge wie Hoodie-Ponchos trägt.
Oder die südafrikanische Tänzerin und Sängerin Dear Ribane mit einer Future-Kwaito-Choreografie, bei der sie und ihre zwei wie nach einem Störfall in orange Plastikanzüge gezwängte Tänzer sich so roboterhaft wie anmutig bewegen – eine abgedrehte afrofuturistische Weiterentwicklung des Mapantsula-Tanzes.
Inspirierend sind auch die Gespräche, die sich bei der Messe ergeben. Die vier schüchternen Jungs vom kenianischen DJ-Produzenten-Team EA Wave, die einen angenehmen Lowtempo-Gig spielen, erzählen etwa von der wachsenden DIY-Szene in der anstrengenden Metropole Nairobi, die der allgemeinen Hustler-Mentalität in einem korrupten System etwas Gemeinsinn entgegenzusetzen versucht. Sie haben schnelles Internet, aber kaum Geld. Dafür tauschen sie ihr Know-how und Dienstleistungen untereinander.
In der mosambikanischen Band des Sängers Isaú Meneses stößt dagegen die einzige Frau der Gruppe eine Debatte darüber an, wo sexuelle Belästigung beginnt. Die Diskussion verläuft ähnlich einsichtig und political correct wie im Normalfall bei uns auch, nur dass dabei mehr gelacht wird.
Zum Abschied nach nur zwei Tagen auf der Insel umarmen die liebenswerten Bandmitglieder sogar die Messe-Sicherheitskräfte. Das ist einer der Momente, in dem einem bewusst wird, wie privilegiert man selbst ist, wo man doch über eine Woche bleibt.
Denn im Anschluss an die IOMMA-Messe geht es unmittelbar mit dem Sakifo Festival weiter. Auf fünf Bühnen präsentieren sich drei Tage lang Musiker aus Réunion und dem Ausland – darunter Größen wie die tamilisch-britische Rapperin M.I.A.
Ihr Hey-Ho-Shouting ist allerdings ähnlich enttäuschend wie die kitschige Hommage an Cesaria Evora zum Auftakt, bei der mehrere Interpreten, darunter Lura und der charismatische Hip-Hop-Chansonnier Gaël Faye, die Lieder der barfüßigen Diva von den Kapverden covern – zur vom Band zugespielten Stimme Cesarias.
Death-Metal-Soundgewitter
Gelungener ist da die Show Nathalie Nathiembés, die sich schon am Vorabend von ihrer Punk-Seite präsentiert hatte: Mit dem von den Komoren stammenden Sänger und Gitarristen Mounawar produzierte sie unter dem Projektnamen Pigment ein ohrenbetäubendes Death-Metal-Soundgewitter voller Verzerrungen und Rückkopplungen.
Auch der Gig Flavia Coelhos überrascht: Nur von ihrem DJ begleitet nimmt die in Paris lebende brasilianische Global-Pop-Sängerin einen mit auf eine Reise in ihre eigene Kindheit zu Rootsreggae und Dancehall. Denn aufgewachsen ist Coelho in Maranhão, jenem Bundesstaat im Nordosten Brasiliens, in dem die Soundsystemkultur Jamaikas bis heute gepflegt wird.
Und mit gewaltigen Boxen bestückte Lastwagen sind nicht etwa eine Erfindung der Loveparade, wie man glauben mag: Im Hinterland Maranhãos sind durch die Provinz tingelnde mobile Anlagen schon seit Jahrzehnten als „Trio Elétricos“ bekannt.
Auf einem Trip zwischen Tradition und Innovation neue Horizonte zu öffnen bleibt schließlich einer Gruppe aus Japan vorbehalten: die Oki Dub Ainu Band. Sänger Oki Kano von der Insel Hokkaido im Norden Japans – der Heimat der Indigenen Ainu – spielt ein traditionelles Saiteninstrument, die zitherartige Tonkori, wie eine psychedelische Gitarre.
Zwischendurch wird der Auftritt zum Höllenritt, wenn Kano das Publikum minutenlang mit seiner kratzigen Stimme quält, während Bass und Drums eine brachiale Rhythmuswand aufbauen – bevor Kano das japanische Dub-Spaceship im Wechselspiel mit seinem irren Keyboarder wieder in entspanntere Bahnen lenkt.
Hatte man vorher den Eindruck, nur wenige überzeugende Acts aus dem asiatischen Raum gesehen zu haben, ist es die Oki Dub Ainu Band, der am Ende der Brückenschlag von La Réunion quer über den Indischen Ozean in den Fernen Osten gelingt.