Crowdworker in Deutschland: Digitale Geister-Arbeiter
Michael Neundorf arbeitet in seiner Freizeit und muss sich verstecken. Adrian P. mag die Freiheit im Job, aber eine Altersvorsorge hat er nicht.
Seit etwa vier Jahren arbeitet Neundorf nun solche Aufträge ab, 1.000 hat er erledigt. Oft muss Neundorf heimlich knipsen. Er spricht von Nervenkitzel, wenn er über seine Arbeit spricht. Über Adrenalin, das ihn motiviert. Wenn Neundorf loszieht, erledigt er meist mehrere Jobs am Stück. Seine Routen plant er zu Hause, dann schwingt sich der schmächtige Magdeburger auf sein Rad. Die Arbeits-Schnipsel erledigt Neundorf in seiner Freizeit.
Warum eigentlich?
„Männer sind Jäger und Sammler!“, erklärt Neundorf seinen Antrieb. Das glauben auch die Firmen hinter Apps wie Streetspotr zu wissen. Sie machen die Arbeit zum Spiel. Digitale Schnitzeljagd klingt besser als Jobben unter dem Mindestlohn. In der Arbeitsforschung heißt dieser Trick Gamification. Michael Neundorf hat sich bei Streetspotr bunte Abzeichen verdient: Ein giftgrün leuchtendes Bildchen in der App weist ihn als „Streetburner“ aus, seitdem er zwanzig Orte in fünf Tagen abgearbeitet hat. Ein rotes Emblem zeigt eine Figur mit Lorbeerkranz, Siegerpokal und Krone – die „Veteran“-Auszeichnung wurde nach Neundorfs fünfhundertstem Auftrag freigeschaltet.
Die Arbeit wird in kleinste Splitter verteilt
Die Auftraggeber sind meist große Unternehmen wie Telekom, Honda, PayPal. Die Crowdworking-Firmen sind ihre Zwischenhändler: Sie zerstückeln die großen Aufgaben in Arbeitssplitter, sogenannte Micro-Tasks. Manchmal versteht man als Crowdworker gar nicht, was hinter einem Arbeitsauftrag eigentlich steckt. Wer scheinbar sinnlos Grimassen vor dem Handy schneiden soll, bringt vielleicht einer automatischen Gesichtserkennung bei, wie Emotionen aussehen.
Viele Aufgaben drehen sich um Texte: Produktbeschreibungen, Korrekturen, Chat-Bots trainieren. Die Jobs versprechen leicht verdientes Geld, Home-Office und flexible Arbeitszeiten. Gut bezahlt sind sie nicht. Die Fluktuation ist dementsprechend hoch: „Es gibt kaum jemanden, der das auf Dauer macht“, teilt die Firma Clickworker.de mit. Darüber, wie viele solcher Crowdworker es gibt, existieren keine Zahlen, nur Hochrechnungen: Mehr als 300.000 sollen es in Deutschland sein. Darunter: vorübergehend Arbeitslose, Studierende, Menschen, die phasenweise viel Zeit haben. Die Gewerkschaft Verdi nimmt an, dass die Branche wächst.
Heute muss Neundorf sich nicht verstecken. Seine Aufgabe: ein Schild an einer Baustelle fotografieren, direkt am Magdeburger Dom. Hier entsteht ein Plattenbau. Für so eine große Baustelle ist es ziemlich ruhig. Nur vereinzelt blitzen orange Warnwesten aus dem Grau. Hammerschläge übertönen den Verkehr der nahen Hauptstraße. Öffentlicher Raum. Alles entspannt also. Hier darf jeder Fotos machen. Neundorf findet das Schild schnell, knipst und lädt das Bild in seiner App hoch. Zack, 2,50 Euro verdient.
Insgesamt macht Neundorf 20 bis 50 Euro im Monat mit seinem Arbeitshobby. Seiner Hobbyarbeit. Sein erstes Smartphone hat er sich extra für den Job gekauft – und die Gewinne mittlerweile in ein neueres Modell investiert, das den Anforderungen besser gewachsen ist: „Schnelles GPS, guter Akku, ’ne sehr gute Kamera und vor allem geräuschlos beim Fotografieren“, sagt Neundorf. Vor Jahren hatte er auch mal probiert, Textaufträge zu übernehmen, merkte aber schnell: „Schreiben ist gar nicht mein Ding!“
Mit Phrasen Geld verdienen: der Werbetexter
Für Adrian P. ist das Schreiben dagegen eine Leidenschaft. „Man kann schon sagen, ich habe mein Hobby zum Beruf gemacht“, sagt der 53-Jährige. Zum Crowdworking kam er im Jahr 2011 zufällig. Damals war er arbeitslos und wollte etwas dazuverdienen. P. zeigt am Rechner, wie sich seine Einnahmen entwickelt haben. Bunte Excel-Tabellen, in denen die Erträge stetig steigen. Was als Nebenverdienst begann ist heute sein einziges Einkommen.
Am meisten verdient er mit Branchenverzeichnissen. P. schreibt kleine Werbetexte für Firmen, die sich damit im Internet präsentieren können. „Diese Texte kann ich superschnell schreiben“, sagt er und runzelt die Stirn: „Im Grunde ist das echter Schrott, ziemliche B-Texte.“
Den Kunden verspricht P. genau das Gegenteil: „Wenn ich Texte für Friseure schreibe, nehmen die sich immer ,extra viel Zeit für dich' und achten auf ,deinen individuellen Stil'. Die bieten auch immer eine ,Auszeit vom Alltag', das ist auch wichtig.“ Phrasen, die funktionieren. Dem Auftraggeber ist der Anspruch der Texte egal, solange die Kunden zufrieden sind. Für komplexere Aufgaben setze sich Qualität am Ende aber immer durch, ist P. überzeugt. Trotzdem fragt er sich oft, ob geistige und kreative Arbeit noch eine Zukunft haben: „Alles, was du digitalisieren kannst, ist nur noch ein Zehntel wert.“
Eigentlich wollte Adrian P. immer Popstar werden. Rampenlicht. Kreative Explosionen. Anerkennung der Kritiker, vielleicht ein bisschen Ruhm. Das hat nicht so gut geklappt. P. sitzt an diesem Mittwoch ganz in Schwarz an seinem Schreibtisch in seiner Wohnung in Neumünster und korrigiert einen Text einer Autorin, die er nicht kennt und auch nie kennenlernen wird. Im Text geht es um Sicherheitsschuhe. Das Wort kommt gleich zehnmal vor, damit Suchmaschinen den Artikel möglichst unter den ersten Suchergebnissen anzeigen. Wer sich nicht unbedingt für die Geschichte und den Nutzen von Arbeitsschuhen interessiert, fände den Text nicht sonderlich spannend.
P. hat sein Arbeitsleben lang danach gesucht, was wirklich seine Aufgabe ist. Er war Sachbearbeiter im Arbeitsamt, Rechtsanwalt und Fahrradkurier. Erst gute Noten im Jura-Studium, dann eine RX100-Gangschaltung am Rad. Schlau und schnell. Erst der vernünftige Weg, dann die Erfüllung eines Jugendtraums. Ein Loslassen nach einem Nervenzusammenbruch. „Ich habe dann so ziemlich mein Leben geändert“, sagt P., und ein bisschen klingt es so, als wäre er erstaunt, wie gut das geklappt hat. In seiner Zeit als Fahrradkurier lernte P. seine Frau Maike kennen. Im Kieler Landesmuseum leitet sie eine Abteilung, ist damit Hauptverdienerin im Haushalt. Adrian P. arbeitet 30 Stunden und kümmert sich ansonsten um den Haushalt und den gemeinsamen Sohn Tim.
Die Autorin des Textes über Sicherheitsschuhe bleibt für Adrian P. anonym, obwohl sie gewissermaßen seine Arbeitskollegin ist. Die Aufträge bekommen beide über das Internetportal Textbroker. Aus einer Liste können sich angemeldete Nutzer Jobs aussuchen. Welche Firma dahintersteht, wird nicht immer verraten. Oft nicht einmal, für welchen Zweck ein Beitrag geschrieben werden soll. Will ein Unternehmen zum Beispiel einen Blog zu seinen Produkten einrichten, wird jeder benötigte Text einzeln als Auftrag ausgeschrieben. Ein paar Euro gibt es jeweils zu verdienen. Das anschließende Lektorat der Artikel läuft genauso ab – Aufgaben, bis ins Kleinste zerlegt, für Kleinsthonorare.
P. findet im Arbeitsschuh-Text keine Fehler. „Schöner Text“, schreibt er in das Bewertungsfeld. Ein Klick, der Beitrag ist weggeschickt. 4,79 Euro verdient. Die nächsten Micro-Tasks warten schon. Der Blick für das große Ganze geht so verloren: Crowdworker arbeiten nicht, weil sie von einem Produkt, einem Unternehmen, ihrem Arbeitgeber überzeugt sind. Sondern nur für sich selbst.
Sie sind dabei so verschieden wie ihre Aufgaben: Selbstständige, Angestellte, Arbeitslose. Viele wollen zwar über ihre Arbeit sprechen, aber anonym bleiben. Da gibt es die 56-Jährige, die monatlich 100 Stunden in der Pflege arbeitet und sich mit ihren Texten eine neue Waschmaschine dazuverdient. Den Hausmann, der sieben Stunden am Tag für neun verschiedene Plattformen aktiv ist, nicht mehr als 400 Euro im Monat bekommt und sich darüber ziemlich ärgert. Oder den Studenten, dem finanzielle Nöte fremd sind: „Da auf der einen Seite mein Studium überdurchschnittlich aufwendig ist und andererseits meine ökonomische Realität es nicht erforderlich macht, einen ,normalen' Studentenjob zu suchen, verdiene ich mein eigenes Einkommen sozusagen primär mittels Crowdworkingplattformen“, schreibt er. Er verdiene allerdings nur ein paar Euro im Monat damit.
Für Adrian P. wäre das nicht genug. Er versucht, seinen täglichen Schnitt zu halten: „Wenn ich 50 Euro pro Tag erreiche, ist es okay“, sagt P.. Das Abrechnen pro Tag ist für ihn angenehmer als das Monatsziel von 1.000 Euro: „Dann müsste ich immer wieder diesen Berg erklimmen.“ Für heute ist sein Soll erfüllt: Eine Crowdsourcing-Plattform hat ihm 50 Euro versprochen, damit er für diesen Text einen Einblick in sein Leben als Klickarbeiter gibt. „Eine übliche Praxis“, heißt es dazu aus der Firma Clickworker.de, für die P. schreibt, „sonst hätte sich wohl keiner gemeldet“.
Kein Mindestlohn, keine Sozialversicherung
Die Mitarbeiterin der Plattform gibt zu verstehen, sie wisse, dass Berichte über Crowdworking häufig sehr kritisch seien: Mindestlohn, Sozialversicherung und so weiter. So etwas gibt es nämlich nicht. Die Gewerkschaften würden da immer Druck machen, hätten aber vielfach keine Ahnung von der Materie. Man treffe sich regelmäßig zu Gesprächen und habe Mindeststandards vereinbart, für die Praxis sei das aber nicht entscheidend. Langfristig werde es ohnehin mehr Crowdworking geben, wenn das Phänomen bekannter werde: „Auch nach negativer Berichterstattung merken wir einen positiven Resteffekt.“
Obwohl die Geister-Arbeiter aus allen Schichten der Gesellschaft kommen, ist Crowdwork in Deutschland noch keine Massenbewegung. Die Arbeit läuft still und leise ab, und die Debatten finden in verschlossenen Räumen statt: Die Gewerkschaften verhandeln mit den Plattformen über Standards und Regulierung. Unternehmen überlegen in internen Konferenzen, wie sie das Geschäftsmodell für sich nutzen können.
Sophie Winter, Schauspielerin
Wer das Arbeitsmodell doch kennt, hat meist direkt ein Bild vor Augen: Ein Männerrücken krümmt sich einem Bildschirm entgegen. Die digitalen Tagelöhner kennen das Klischee: „Jeder Beitrag in den Medien beginnt ja immer gleich“, sagt eine von ihnen am Telefon und spricht mit verstellter, tiefer Stimme, wie in einem Trailer für einen Actionfilm: „Jürgen sitzt alleine in einem dunklen Zimmer. Er ist Crowdworker.“
Sophie Winter aus Halle ist ausgebildete Schauspielerin. In der Crowd arbeitet die 28-Jährige nur nebenbei. Unter zehn Euro Stundenlohn fängt sie gar nicht erst an. „Mehr als eine Ergänzung darf es nicht sein“, sagt Winter. Sie wundert sich, warum sich gut ausgebildete Menschen wie Adrian P. den Hungerlohn in Vollzeit antun, erst recht diejenigen, die immer fleißig, immer akkurat, also gut in ihrem Jobs sind: „Wer bei den Plattformen die höchste Einstufung schafft, muss schon wirklich schlau und schnell sein. Wer das kann, kann auch andere Jobs machen.“
Michael Neundorf, der Mann mit dem Smartphone aus Magdeburg, hat heute keine Zeit mehr, um weitere Aufträge anzunehmen. Er muss nun arbeiten. Eigentlich ist Neundorf Drucker, ganz klassisch. Crowdworker würde er sich nie nennen.
Auch Adrian P. nennt sich lieber Texter. Aus dem angegrauten Mittfünfziger wird wohl kein Popstar mehr werden, aber die Musik ist ihm geblieben: Im Arbeitszimmer steht nicht nur der Computer, sondern auch der elektrische Kontrabass. Zwischen Geschäftsbriefen stapeln sich Notenblätter auf seinem Schreibtisch. Alltag und Arbeit vermischen sich bei P. überall und ständig. Der Abend naht, P. bringt seinen Sohn zur Musikschule. Während der sich mit dem Klavier abmüht, sitzt P. auf dem Flur, öffnet seinen Laptop und beginnt, zu schreiben. Ein Saxofon quäkt, ein Flöte trillert, dazwischen quietscht eine Geige.
P. sagt: „Am Ende geht es doch den meisten um Geld.“ Ihm nicht. Er ist mit den 1.000 Euro netto zufrieden, die er jeden Monat mit seinen Mikro-Jobs verdient. P. kann von seinen Einkünften bescheiden leben. Ausgebeutet fühlt er sich nicht. Er sieht nicht die kleine Summe, sondern vor allem die gewonnene Freiheit.
Er kann sich sogar vorstellen, noch im Rentenalter Texte im Internet zu verkaufen. Vielleicht, weil er es muss: Mehr als 500 Euro wird seine Rente wohl nicht betragen. Als das Gespräch auf den Vorsorgeplan für die Zukunft kommt, muss er lachen: „Meine Frau ist meine Altersvorsorge“, sagt er. „Maike ist 16 Jahre jünger als ich, wenn ich in Rente gehe, ist sie 51 und arbeitet noch 16 Jahre. Und dann bin ich statistisch tot.“
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