Coronavirus in Russland: Gottesmutter im Autokorso
Lange nahm die Orthodoxe Kirche die Pandemie nicht ernst und veranstaltete weiter Messen. Jetzt schnellen die Infektionszahlen nach oben.
Etwas mehr als zwei Stunden dauerte die Fahrt um die Hauptstadt. In vier Limousinen brach die orthodoxe Fahrgemeinschaft auf. In einem der Wagen war die Ikone der Gottesmutter „umilenie“ (Rührung) untergebracht. Die Größe der Reliquie verlangte für den Transport ein eigenes Vehikel. Schließlich sollte sie die Stadt von der Plage befreien. Die getönten Scheiben der Wagen verrieten nicht, wer in welchem Auto Platz genommen hatte.
Die Rettungsaktion konnte die Stadt vor Schlimmerem jedoch nicht bewahren. Erst jetzt erreicht die Coronapandemie ein beunruhigendes Ausmaß in Russland. Über 2.700 Neuinfizierte wurden am Dienstag gemeldet, ein sprunghafter Anstieg.
Patriarch Kirill sprach zuletzt von einer Vorsehung Gottes, die die Welt heimgesucht hätte. Dem kann sich der Gläubige nicht entziehen. Theologische Feinheiten dieser Vorsehung erläuterte der 73-jährige Patriarch jedoch nicht in der Öffentlichkeit.
Coronavirus als gerechte Strafe
Vielmehr klang es nach einem Verdikt, was der Patriarch ansprach, einer gerechten Strafe, die über die Menschheit hereinbreche. Viele Moskauer verschreckte die abgeklärte Schicksalsergebenheit des Patriarchen.
Schon im Vorfeld der Epidemie hatte Professor Alexei Osipow von der Geistlichen Akademie in Moskau seine Version der Katastrophe im religiösen Kanal der ROK kundgetan: Der 82-jährige Theologe deutete die Heimsuchung als göttliche Strafe für schandhafte Taten der westlichen Welt. Dies sei eine Anspielung auf die Erlaubnis zur Eheschließung unter homosexuellen Partnern, erläuterte Andrei Kurajew später, ein streitbarer Diakon der orthodoxen Kirche.
Auch wenn ROK und weltliche Macht die Freizügigkeit verurteilen, dem göttlichen Willen entkommen sie nach dieser Lesart auch nicht.
Die ROK zögerte lange, wie sie mit der Coronabedrohung in den Gotteshäusern umgehen solle. Viele Priester und höhere Würdenträger weigerten sich zunächst, Maßnahmen zum Schutz der Gläubigen zu erlassen. Wer wirklich des Glaubens sei, den verschone die ansteckende Krankheit, meinten viele Kirchgänger und werteten anhaltende Gesundheit gewissermaßen als Gottesbeweis.
Trotz Ansteckungsgefahr beugten sich Gläubige noch im März in der Petersburger Kasan-Kathedrale über die Reliquien Johannes des Täufers. Die Orthodoxie in Jerusalem hatte die sterblichen Überreste vor Ostern nach Russland überstellt. Hunderte pilgerten täglich zum eingeflogenen Schrein, um von den Reliquien Stärkung zu erlangen. Auch Warnungen schreckten Bittsteller nicht ab, die vorher in endlosen Schlangen ausgeharrt hatten.
Sie neigten sich über die Ikone, berührten mit den Lippen das Glas, küssten das Kreuz oder auch die Hände des Geistlichen. Ein Messdiener wischte mit einem Tuch gelegentlich über feuchte Stellen. Mal soll es ein ölgetränkter, mal ein mit Desinfektionsmittel besprühter Stoff gewesen sein. Unregelmäßig geschah es jedoch und nicht flächendeckend. Hunderte und Aberhunderte müssen am Tag die Nähe des Göttlichen gesucht haben.
Messwein aus Einwegbechern
Moskau zeigte lange keine Reaktion. Weder ordnete es Vorbereitungen für die Quarantäne an noch bereitete es Gemeinden auf die Bedrohung vor. Bis zuletzt war der für die Außenbeziehungen des Patriarchats zuständige Metropolit Ilarion überzeugt, alle Oster- und Fastenmessen könnten trotz Bedrängnis gefeiert werden. Dabei sollten nur die neuen Hygieneregeln gelten, die Patriarch Kirill inzwischen erlassen hatte: Die Kirchgänger sollen darauf verzichten, Ikonen, Kreuze und Hände des Priesters zu küssen. Die Heilige Kommunion, die mit einem Gemeinschaftslöffel gereicht wird, verlangt nun, dass der Löffel nach jedem Gläubigen desinfiziert wird. Messwein wird in Einwegbechern und Hostien werden mit Gummihandschuhen gereicht.
Ilarion appellierte an die Gläubigen, sich strikt an die Schutzmaßnahmen zu halten. Auch der Patriarch blieb während des großen Fastens vor Ostern erstmals einem Sonntagsgottesdienst fern. Doch abgesehen von diesen verspäteten Maßnahmen blieb die Reaktion der Kirche alles in allem eher zurückhaltend, urteilt Diakon Kurajew. Die ROK musste handeln, ansonsten hätte sie mit Strafmaßnahmen seitens des Staates rechnen müssen, mutmaßt der Theologe.
Die Orthodoxie reagierte als eine der letzten Glaubensgemeinschaften. Erst warnte das griechische Patriarchat in Konstantinopel, dann folgte die katholische Kirche. Rabbiner schlossen Synagogen und isolierten die Klagemauer in Jerusalem. Auch der Vorsitzende der islamischen Geistlichkeit in Russland forderte Muslime auf, zu Hause zu beten, statt in die Moschee zu kommen.
Moskaus Patriarchat ordnete erst danach Verschärfung an. „Im Nachhinein sieht es aus, als handle die Kirche nicht aus Sorge und Gewissensgründen, sondern weil es die Politik verordnete.“ Wird sich die Kirche von diesem Stigma wieder befreien können?, fragt Kurajew.
Ostern sollte verschont bleiben
Die Kirche handelte, als sie keinen Ausweg mehr sah. Auch Russlands politische Führung wollte den Vormarsch der Pandemie zunächst nicht erkennen. Die ROK wartete indes noch länger. Ostern als wichtigstes und fröhlichstes Fest der Orthodoxie sollte möglichst verschont bleiben.
Beim Vorgehen der Kirche treffen unterschiedliche Motive aufeinander. Die Orthodoxie ist in Russland mit dem Staat in einer „Symphonia“, einer Harmoniegemeinschaft, verbunden und lehnt sich eng an Vorgaben der weltlichen Herrschaft an. Selten wagt der Klerus unerlaubte Grenzüberschreitungen.
Dennoch – oder gerade deswegen – achtet die Kirche genauestens auf Regelverletzungen staatlicherseits. Übergriffe werden als Eingriffe in die klerikale Souveränität gewertet. Viele Würdenträger waren erbost über die „von außen“ verhängten Einschränkungen und Auflagen. Manche befürchteten, die Kirche könnte weiter an Vertrauen verlieren. Trotz aller Unbill bleibt die politisch-religiöse Harmonie jedoch Leitmotiv der ROK.
Befehl und Unterordnung
Nicht zu unterschätzen ist überdies die Macht des Aberglaubens, der in Russland mit dem Glauben eine eigentümliche Liaison eingeht.Manchmal scheint es, als suche er die ROK stärker heim als andere christliche Gemeinschaften.
In der historischen Rückblende spielen auch Gewaltbereitschaft und Uneinsichtigkeit bei den Gläubigen eine gewisse Rolle. Bei manchem Kirchenvater mag die Erinnerung noch lebendig sein. Patriarch Sertis-Kamenskij bezahlte dies mit dem Leben: Während eines Pestausbruchs in Moskau ließ er 1771 den Zugang zu einer beliebten Ikone sperren. Das Volk erhoffte sich Heilung. Der untadelig beleumundete und hochgebildete Patriarch ließ die Ikone indes aus der Kirche entfernen. Gerade an ihr hatte sich das Volk infiziert. Die wütende Menge wollte dem Kirchenmann das Verbot jedoch nicht verzeihen und lynchte ihn zu Tode.
Kirche und Politik trauen dem Volk in Russland nicht über den Weg – bis heute. Sie behandeln das Land, als kenne es nur Befehl und Unterordnung: Die Kirche fürchtet, Anhänger zu verlieren, sollte sie härtere Maßnahmen verordnen. Der Kreml argwöhnt, ohnehin hätten die Bürger es nur darauf abgesehen, wider den Stachel zu löcken und Verbote zu missachten.
Einige Priester begegnen dem Kirchenvolk inzwischen mit etwas Nachsicht. Sie plädieren dafür, das Fasten zu erleichtern. Schon der zwangsverordnete Hausarrest gleiche einem Martyrium, behaupten viele. Die Kirche dürfe während der Pandemie nicht noch mehr Probleme schaffen, mahnt auch Kurajew.
In der Karwoche werden Moskau und Sankt Petersburg nun doch die Tore der Kirchen für Besucher schließen. Vom 14. bis zum 19. April erstreckt sich das Verbot. Dem war ein Sonntag vorausgegangen, der Palmsonntag, an dem die Menschen landauf, landab Kirchen geradezu erstürmten. Auch die für Besucher geschlossenen Friedhöfe konnten sich des Ansturms nicht erwehren. Friedhöfe sind zurzeit nur noch für Beerdigungen zugänglich. Auch deren üblicher Besuch vor Ostern musste ausfallen. Dennoch kletterten viele Menschen über Zäune und durch Gitter.
Der Tadel der Politik erfolgte sofort, noch in den Abendnachrichten: Klagen über das undisziplinierte Volk ersetzten Berichte über Engpässe der sich ausweitenden Coronapandemie.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe
Armut in Deutschland
Wohnen wird zum Luxus
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Studie Paritätischer Wohlfahrtsverband
Wohnst du noch oder verarmst du schon?