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Corona verbessert die UmgangsformenPlötzlich zivilisiert

Kommentar von Claudius Prößer

Geht doch: Im Zuge der Pandemie haben die BerlinerInen ganz plötzlich gelernt, Rücksicht zu nehmen.

So eine schöne Schlange: Drängeln ist plötzlich out Foto: dpa

D ie Pandemie hat die Stadt ins Chaos gestürzt. Es herrscht Anomie, jeder sieht zu, wo er bleibt. KundInnen zerfleischen sich am Lidl-Regal im Kampf um die letzte Klopapierrolle. Auf geheimen Partys stößt das Jungvolk aufs vorzeitige Ableben der Alten an. PolizistInnen werden mit infiziertem Sputum attackiert, rächen sich mit brutalen Einsätzen und holen den eisernen Besen raus. Das Ende ist nah.

Nicht.

Natürlich, es gibt diese Erzählungen, wie im Angesicht der Krise alles immer schlimmer wird, manches davon wird wahr sein, und unter dem Vergrößerungsglas von Twitter und Co. sieht es noch mal besonders heftig aus. Aber die Erfahrung, die sehr viele gerade in ihrem Corona-Alltag machen, ist eine andere: Das Virus hat die BerlinInnen in ungeahntem Maße zivilisiert.

Man muss gar nicht die vielen solidarischen Gesten und Hilfsangebote bemühen, die fast genauso exponentiell wachsen wie die Infiziertenmeldungen: die Netzwerke zur Unterstützung von Lieblingskneipen und -läden, die Gabenzäune, an die Hilfswillige Tüten mit Lebensmitteln für Obdachlose hängen, Telegram-Kiezgruppen und die unzähligen Zettel in den Treppenhäusern, auf denen sich NachbarInnen für Einkäufe und sonstige Erledigungen anbieten.

Es reicht schon ein Gang auf die Straße. Wann hat man in dieser Nahkampfzone zum letzten Mal so viel Rücksichtnahme erlebt? Hätte vor der Krise irgendjemand eine Flasche Bier darauf verwettet, dass die gemeine BerlinerIn vorbildlich Schlange steht, anderen abstandsbedingt den Vortritt lässt und dabei auch noch halbwegs freundlich schaut? Sogar über komplizenhaftes Lächeln wird berichtet.

Milde Zurückhaltung

Corona-Partys? Wann gab’s wo die letzte? Ignorante Zusammenrottungen in Parks? Wirklich oder nur gefühlt? Umgekehrt fallen auch die meisten Begegnungen mit der Polizei, die zurzeit eigentlich vor Kraft kaum gehen können dürfte, erstaunlich milde aus. Irgendwie nehmen sich gerade alle ein bisschen zurück, ein völlig unbekanntes Berlingefühl.

Vielleicht ist das nur eine Momentaufnahme. Vielleicht reißen die schlechten Sitten dann doch wieder ein, wenn’s irgendwann für viele ökonomisch und emotional ans Eingemachte geht. Eine andere Erklärung scheint naheliegender: Corona entschleunigt uns dermaßen, dass wir alle gerade ein bisschen entspannen. Die leeren Straßen, das Fehlen von Staus, der Wegfall der ständigen Mikroaggressionen im Verkehr und des Gerempels auf dem Gehweg – man sollte das nicht unterschätzen.

Leider heißt das auch: Kommt alles wieder. Genießen wir’s, solange es anhält.

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Redakteur taz.Berlin
Jahrgang 1969, lebt seit 1991 in Berlin. Seit 2001 arbeitet er mit Unterbrechungen bei der taz Berlin, mittlerweile als Redakteur für die Themen Umwelt, Mobilität, Natur- und Klimaschutz.

1 Kommentar

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  • 7G
    76530 (Profil gelöscht)

    Weit genug entfernt von der Hauptstadt, mein Tipp an die Berliner: "Geniesse den Krieg, der Frieden wird fürchterlich (Autor mir nicht erinnerlich)."

    Nein, diese Zeiten sind kein Krieg, wie wir ihn kennen. Und doch weisen sie in ihren bislang nicht bekannten Auswirkungen genau in diese Richtung.

    So sehr ich mir wünsche, dass vor allem die massgeblichen Entscheidungsträger aus dieser Extremsituation lernen, so sehr zweifle ich daran.