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Corona verändert FilmfestspieleFilme mit 36,2 Grad Celsius

In Venedig sieht man überall Masken auf dem Gelände und im Kino. Eröffnet werden die Filmfestspiele mit Daniele Luchettis Familiendrama „Lacci“.

Immer schön mit Maske: Jury-Chefin Cate Blanchett beim Fototermin am Mittwoch Foto: Yara Nardi/reuters

I n Deutschland gibt es derzeit eine Minderheit, die sich lautstark gegen die Coronabeschränkungen in Szene setzt und für die zugehörigen Medienbilder sorgt. Darunter eine Gruppe von Menschen aus dem alternativ-ökologischen Spektrum. Vielleicht kann es daher nicht schaden, an dieser Stelle an die durchaus vorhandenen positiven Aspekte der Pandemie zu erinnern. Etwa, dass die Menschen jetzt weniger fliegen und dafür mehr Zug fahren.

So erfolgte die Anreise zu den Filmfestspielen von Venedig diesmal mit der Bahn. Von Berlin aus eine Reise von zwölf Stunden Dauer, dafür durch eine Landschaft, die aus der Luft allenfalls zu erahnen ist. Allein für die Strecke auf der Brennerbahn lohnt sich die Mühe, Gebirgspanorama, wohin man blickt. Ohne Maske wäre das alles zweifellos noch schöner, doch wird die Sicht von einer Mund-Nasen-Bedeckung ja in der Regel nicht eingeschränkt.

Dass man mit Pandemien übrigens noch weit strenger umgehen kann als in Deutschland, erfährt man beim Umsteigen am Bahnhof Verona. Dort müssen alle Passagiere einen Korridor passieren, in dem ihre Temperatur gemessen wird.

Auch an der Rezeption im Hotel musste man einem Messgerät die Stirn bieten, bevor der Zimmerschlüssel ausgehändigt wurde. Und am nächsten Morgen, beim Betreten des Festivalgeländes, gab es gleich die nächste Prüfung der Körpertemperatur. Offizielles Ergebnis laut Polizei: 36,2 Grad Celsius.

Auf dem Gelände herrscht generelle Maskenpflicht. In den Gebäuden, während des Films im Kino, selbst im Freien tragen alle Besucher eine Bedeckung von Mund und Nase. Was sich am Ende der Filmfestspiele in einem bleicheren Teint in der unteren Gesichtshälfte bemerkbar machen dürfte.

Eröffnungsfilm „Lacci“ widmet sich dem Mikroklima der Kleinfamilie

Der Eröffnungsfilm der Filmfestspiele, „Lacci“ von Daniele Luchetti, lässt einen dann für 100 Minuten die veränderten Begleitumstände vergessen. „Lacci“ ist eine Verfilmung nach dem gleichnamigen Roman von Domenico Starnone. Luchetti, der 2007 in „Mein Bruder ist ein Einzelkind“ eine Familiengeschichte um radikalisierte Geschwister zwischen Faschismus einerseits und Kommunismus andererseits erzählte, widmet sich in seinem aktuellen Film dem politischen Mikroklima der Kleinfamilie.

Im Neapel der frühen Achtziger leben Aldo (Luigi Lo Cascio) und Vanda (Alba Rohrwacher) mit Tochter und Sohn. Der Alltag ist geregelt, Aldo arbeitet tagsüber in Rom beim Radio, Vanda kümmert sich um die Kinder. Sie ist für Aldo nach Neapel gezogen, obwohl sie dort niemanden kennt und terrorisiert Aldo mit Besitzansprüchen. Der entzieht sich mit einer Affäre, kann sich jedoch nicht entscheiden, ob er ganz zu seiner neuen Freundin ziehen oder doch weiter für seine Familie da sein will.

Die Dynamik setzt sich über mehrere Jahrzehnte fort, man erlebt in einem großen Zeitsprung die gealterten Aldo und Vanda, die irgendwie zusammengeblieben sind, obwohl sie wenig zu verbinden scheint. In Rückblenden sieht man Erinnerungen an diverse Katastrophen.

Luchetti erweckt anfangs den Eindruck, als wolle er den Film um Stimmen herum aufbauen. Die Stimme Aldos, die Vanda aus dem Auto- oder Küchenradio hört, die Stimmen von Aldo und Vanda in einer Streitszene im Tonstudio, die man über die laufende Tonbandaufnahme hört. Oder umgekehrt: eine Konfrontation zwischen Vanda, Aldo und dessen Freundin Lidia, aus der Sicht der im Auto sitzenden Kinder, ohne Ton.

Ab der zweiten Hälfte verliert Luchetti aber das Interesse an dieser Idee, konzentriert sich stärker auf die zerquälten Familienbande, in der alle ihren Anteil am Misslingen haben. Richtig warm wird man mit diesen Figuren nicht, soll man auch nicht. Doch haben sie zu wenig Profil, um zu faszinieren. Ein leicht gedämpfter Auftakt.

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Kulturredakteur
Jahrgang 1971, arbeitet in der Kulturredaktion der taz. Boehme studierte Philosophie in Hamburg, New York, Frankfurt und Düsseldorf. Sein Buch „Ethik und Genießen. Kant und Lacan“ erschien 2005.
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