Corona macht soziale Unterschiede größer: Solidarisch unter uns
Gestresste Eltern helfen sich gerne gegenseitig in der Coronakrise. Die neue Solidarität zeigt aber auch, wer die Ressourcen dazu hat und wer nicht.
A m letzten Schultag vor den Coronaferien kam mein großer Sohn mit einem DIN-A4-Zettel nach Hause. Darauf standen ein paar Aufgaben für zu Hause notiert, es folgte eine Mail der Schulleiterin: Die KlassenlehrerInnen würden sich vor Ostern nochmal melden, ob man eventuell Lösungsaufgaben brauche oder vielleicht noch ein paar Aufgaben mehr. Schöne Grüße, und bleiben Sie gesund.
Ich muss zugeben, ich war leicht panisch. Ich sah nicht unbedingt, dass der Zettel das Kind drei Wochen, also bis zum Fernziel Osterferien, ausreichend beschäftigen würde. Und dass ich keine Lust zum Homeschooling haben würde, wusste ich auch schon vor Corona.
Es soll ja Eltern geben, die jetzt regelrecht den Pädagogen in sich entdecken (kein Aprilscherz). Ich gehöre definitiv nicht dazu. Ich habe mit Mathe-Textaufgaben in dem Moment abgeschlossen, als ich meine letzte Abi-Klausur feierlich in die Hände meines Mathelehrers legte, und ich verspüre keinerlei Lust, mir jetzt plötzlich wieder welche auszudenken.
Zudem war unser Familienkalender von einem auf den anderen Tag voller Kugelschreiber-Kreuze: Die Orte, wo man die Kinder für gewöhnlich hin organisiert, die Musikschule am Donnerstag, der Sportverein am Freitag, waren ja ebenfalls in der Corona-Zwangspause. Was zu tun übrig blieb, passte jetzt also offenbar auf einen DIN-A4-Zettel. Und für den kleinen Bruder war der Kalender quasi komplett blanko, weshalb ich ihn schon ein wenig renitent (in Ermangelung seiner Sparringspartner in der Kita) durch den Vormittag dümpeln sah.
Allerdings hatte ich, wie schon so oft, meine Mit-Eltern unterschätzt. Eine Kita-Mutter schickt jetzt mehrmals pro Woche PDFs von eingescannten Buchseiten zum Vorlesen „gegen die Langeweile“. Ein Vater schickte eine Liste über den Klassenverteiler, darauf gleich „70 kreative Ideen gegen die Langeweile“. Die Kita schickt pädagogische Arbeitsblätter zum Thema „Körper und Gesundheit“.
Im Kiez bei uns haben AnwohnerInnen Zettel an die Straßenbäume gehängt, mit Aufgaben drauf: Unterscheide drei verschiedene Singvögel. Hüpf von hier bis zum nächsten Baum auf einem Bein. So was.
Die vergrößerte soziale Ungleichheit
Ich habe mich gefragt, warum ich beim Anblick der Zettel zum ersten Mal ein wenig genervt war von diesem eigentlich sympathischen Wir-kümmern-uns-umeinander-Ding. Diese Gefühlsregung, die doch auch ein wenig überraschend kommt, weil man sonst hier im täglichen Nahkampf, ob im Straßenverkehr („Ey, du Idiot!“), oder an der Kita-Garderobe („Wenn dein Kind mein Kind noch einmal beißt, werden wir uns zu wehren wissen!“), nicht unbedingt auf die Idee kommen könnte, dass die BerlinerIn von Natur aus ein Menschenfreund wäre.
Ich glaube, was mich stört, ist, dass unter dem Deckmantel der Solidarität die Ungleichheiten eigentlich krasser werden. Hier die Eltern wie in meinem Kiez, die grundsätzlich ambitioniert an das Unternehmen Familie herangehen. Natürlich wissen sie sich zu helfen, wenn elementare Strukturen wie Schule und Sportverein wegbrechen. Natürlich heulen sie rum über die Unbilden des Homeschoolings (siehe oben), aber das heißt ja auch nur, dass sie fleißig den Lehrer geben. Bei den meisten stand am Ende der ersten Woche eine sinnvolle Tagesstruktur. Die Spielzeit am Tablet beginnt um 14 Uhr, davor gibt’s nur die guten Sachen auf YouTube, Sportstunden und Mathe-Tutorials (zum Leidwesen meines Sohnes, übrigens).
Unser Familienleben ist im Moment gleichzeitiger, die Englisch-Vokabeln, die fertige Waschmaschine und die nächste Videokonferenz nehmen weniger Rücksicht aufeinander. Das ist nicht unanstrengend, aber es ist auch schön – weil es ein zeitlich begrenztes Familienexperiment ist und weil wir die Ressourcen haben, damit umzugehen. Meine Kinder freuen sich, dass wir sie mehr in Ruhe lassen als sonst und sie endlich viel länger auf der Wiese hinterm Haus und im Hof spielen dürfen, statt zur Musikschule zu müssen. Das ist schön und leider auch unfair, fürchte ich.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!