piwik no script img

Corona in ItalienSystematische Herzlosigkeit

Angehörige von Covid-19-Toten in Bergamo haben eine Sammelklage eingereicht. Sie wollen, dass Verantwortliche für das Desaster juristisch belangt werden.

Düstere Erinnerungen: Im März brachten Militärfahrzeuge Corona-Tote zum Friedhof von Ferrara Foto: ap

Rom taz | „Das Krankenhaus bat uns um Hilfe, um einen Platz auf einer Intensivstation in einem anderen Hospital zu finden, es fand sich kein Platz, später dann haben sie vergessen, uns über seinen Tod zu informieren.“ Cristina Longhini verlor vor knapp zwei Monaten ihren Vater – eines der zehntausenden Opfer der Coronapandemie in Italien.

Aber auch eines der zehntausenden Opfer eines Gesundheitssystems, das, wie Cristina glaubt, in der Krise dramatisch versagt hat. Am Mittwoch fanden sich einige Dutzend Personen im Justizpalast von Bergamo ein, um die ersten 40 Klagen einzureichen – vorerst gegen unbekannt. Die Initiative geht zurück auf die Gruppe „Wir zeigen an“, in der sich mittlerweile mehr als 55.000 Angehörige von Coronatoten in Italien zusammengefunden haben.

Alle diese Menschen wollen Klarheit. Sie wollen wissen, warum ihre Väter oder Großmütter, ihre Brüder oder Schwägerinnen oft tagelang darauf warten mussten, dass ein Arzt sich überhaupt bereit zeigte, sie zu untersuchen. Warum weder eine adäquate häusliche Behandlung noch auch eine Einweisung in eine Klinik möglich war. Und warum oft genug die Angehörigen ihrerseits nicht auf das Virus getestet wurden.

Gegründet wurde die Gruppe in Bergamo von dem Steuerberater Luca Fusco und seinem Sohn Stefano. Ihr Vater beziehungsweise Opa wurde binnen weniger Tage von Covid-19 hinweggerafft. Er sei zwar schon 85 Jahre alt gewesen, aber nach Auskunft der beiden alles andere als gebrechlich. Sie riefen zunächst eine Facebook-Gruppe ins Leben und tausende Menschen schlossen sich an.

Keine Entschädigungen

Sie alle eint ein Ziel: „Wir wollen keine Entschädigungen.“ Stattdessen gehe es darum, dass die Verantwortlichen des Desasters strafrechtlich zur Verantwortung gezogen würden. Luca Fusco stellt klar: Gemeint seien nicht die Ärztinnen oder Krankenpfleger. Gemeint seien die administrativ und politisch Verantwortlichen des Gesundheitswesens, in Bergamo, in der Lombardei, in ganz Italien.

Die Stadt und die Provinz Bergamo wurden so heftig wie kein anderer Ort in Italien von der Coronapandemie getroffen. Das Bild der langen Kolonne von Lkws, die in der Nacht des 18. März am örtlichen Friedhof vorgefahren waren, um Dutzende Särge in die Krematorien anderer italienischer Städte zu bringen, ging um die Welt.

Auch Cristina Longhinis Vater war in einem der Särge, die die Reise durch Italien antraten. Nach dessen Tod bekam sie im Krankenhaus einen Müllsack mit seinen Habseligkeiten ausgehändigt, „darin seine Tasche mit seinen Sachen, auch einem Unterhemd mit einem enormen Blutfleck: infektiöses Material“. Die Spur der Leiche des Vaters verliert sich dagegen. Tage vergehen, bis die Familie erfährt, dass er in Ferrara eingeäschert wurde.

Die Unfähigkeit eines Systems, das gerade in den ersten Wochen keine adäquate Behandlung garantieren konnte, eines Systems, in dem die Angehörigen in den Apotheken der Umgebung auf eigene Faust die Suche nach Sauerstoffflaschen aufnehmen mussten, weil der Gesundheitsdienst bloß das Rezept ausstellte. Diese Unfähigkeit verband sich nach den Aussagen vieler der Mitglieder von „Wir zeigen an“ mit einer ebenso systematischen Herzlosigkeit.

Fragen über Fragen

Mehr als 34.000 Covid-19-Opfer zählt Italien mittlerweile offiziell, nach den Auswertungen der Sterbestatistiken der vergangenen Jahre waren es aber wohl eher 50.000. Gut 16.000 Tote sind allein in der Lombardei zu beklagen.

Die Kläger*innen wollen jetzt Auskunft erhalten: Warum zum Beispiel wurde Ende Februar vor den Toren Bergamos, in Alzano Lombardo, nach der Diagnose eines Covid-19-Falls das dortige Krankenhaus nach nur wenigen Stunden wieder geöffnet? Warum wurde in der Val Seriana trotz des geballten Auftretens von Fällen Anfang März keine Rote Zone eingerichtet?

Warum versagte die hausärztliche Betreuung in der Lombardei, die auf dem Höhepunkt der Krise nur noch in Telefonsprechstunden mit der Verordnung von Schmerzmitteln bestand, völlig? Und wer trägt die Verantwortung dafür, dass in den Altenheimen keine Schutzmaßnahmen ergriffen wurden? Auf die 40 ersten eingereichten Klagen sollen in den nächsten Tagen 150 weitere folgen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • 0G
    06438 (Profil gelöscht)

    Für Italiens bis vor Ausbruch der Seuche in allen Umfragen strahlenden Oppositionsführer Matteo Salvini ist die Lega-regierte Lombardei von der Musterregion zum Mühlstein am Hals geworden.

    Salvinis Umfragewerte sind regelrecht abgestürzt, die Lega hat ein Drittel ihrer Wähler aus den Europawahlen verloren, liegt nur noch knapp vor der Partito Democratico.

    Nur ein Beispiel für das Missmanagement in den Lega-geführten Regionen:



    In Mailand kennt jeder den Fall der großen Seniorenresidenz "Pio Albergo Trivulzio", in die man noch Anfang März auf Anordnung von Regionalfunktionären "leichte" Covid-19 Fälle verlegt hatte. Als der zuständige Heimarzt dagegen protestierte und dem Pflegepersonal Schutzbekleidung verordnete, wurde er fristlos entlassen, weil er angeblich "Panik stiftete". Heute weiß man, dass fast die Hälfte der Opferzahl in der Region in den Altenheimen und Residenzen vermeldet wurde.

    Auch drei Monate nach Beginn der Seuche werden Infektionsketten nicht ordentlich nachverfolgt, müssen Angehörige eines Covid-19-Opfers - wie in Bergamo öffentlich geworden - 500 Euro Gebühren zahlen, um sich testen zu lassen.

    Fast jede Familie in der Lombardei hat ein Opfer der Seuche zu beklagen; Tote oder Überlebende, die nun schwerkrank Pflege brauchen. Jeder Vierte als "geheilt" von der Intensivstation entlassene Covid-19 Patient muss in die Dialyse, weil die Nieren versagt haben. Die Lungen sind bei vielen dauerhaft geschädigt. Als "geheilt" entlassen zu sein, ist bei dieser Seuche nicht gleichbedeutend mit gesund sein. Auf Angehörige und das Gesundheitswesen kommt eine Nachwelle Zehntausender Schwerbehinderter zu.

    Erst die rechtsradikalen Salvinis wählen und wie sie sonst noch alle heißen, welche massgeblich ein solidarisches öffentliches und leistungsfähiges Gesundheitssystem bekämpfen - und sich dann hinterher über das erwartbare Arnageddon beschweren?

    Wie geht das zusammen?

  • "... die administrativ und politisch Verantwortlichen des Gesundheitswesens, in Bergamo, in der Lombardei, in ganz Italien"

    Naja. Und in der EU.

    Erinnern wir uns an die Austeritätswelle 2007 ff? Die ihre Wurzeln in der EU getriebenen Privatisierungsseuche [1] hatte? Die als Nebeneffekt solche Monstrositäten wie Steuerparadise mitten in der EU produziert hat (-> Ductch sandwich) die uns allen rd. 25 Mrd Euro Steuereinnahmen kosten?

    Ich wünsche mir, es erwischt auch einige von denen.

    [1] Und komme mir keine*r jetzt damit, dass es vorher korrupt-verflochtene Staatsunternehmen gab. Ja natürlich gab es sie. Klar gehörten sie entflochten. Aber die "Lösung" wurde zu marktgläubig, zu egoistisch und zu unsolidarisch durchgezogen. Von den Interessen derer geleitet, die sowieso mehr als genug zum Leben haben.