Corona im Kultur-Alltag: Die Langeweile in Zeiten von Corona
Corona heißt nicht nur Quarantäne, sondern auch Langeweile. Nach Absage der LSD-Lesebühne bereitet sich Uli Hannemann auf das große Nichtstun vor.
Im digitalen Kalender unserer Lesebühne ändere ich die Einträge für die nächsten Wochen: Statt „Gast: Elfriede Jelinek“, „Offenes Mikro: Mario Barth“ oder „Urlaub: Ivo, Ersatz: Knorkator“, steht nun unter „Gast“ jeweils nur noch „Corinna.“ Ein Euphemismus. Die Veranstaltung ist seit Freitagabend offiziell abgesagt.
Schon in den beiden Wochen davor hatten wir befürchtet, dass keiner mehr käme. Doch mit der Aussicht, dass die Show jederzeit zum vorerst letzten Mal steigen könnte, kamen eher mehr Leute als zuletzt. Als wäre das Bedürfnis nach einer Form von Unterhaltung gestiegen, wie wir sie eben bieten: niedrigschwellig, nah am Publikum, komisch, aktuell und zugleich doch irgendwie tröstend. Die Stimmung war blendend. Das war dumm.
Drei Tage später herrscht Gewissheit. Ich lade per Rundmail die Gäste für die nahe Zukunft aus, ersetze sie durch Corinna, und werde gleich darauf schrecklich müde. Alles, was für mich zu tun war, ist hiermit getan, wahrscheinlich für sehr lange Zeit.
Mit Wucht packt mich ein überwältigendes Gefühl der Sinnlosigkeit und wirft mich wie einen nassen Sack aufs Sofa nieder. Dabei ist es gerade mal der allererste Tag nach dem Beschluss, dass sämtlicher Fun zu ruhen habe. Wie soll das bloß weitergehen? Morgen, in einem Monat, in einem Vierteljahr?
Ich könnte irgendwas schreiben, aber auf einen weiteren Corona-Text wartet die Welt nicht, die Welt wartet auf gar nichts mehr, und nichts wartet auf die Welt. Warum sollte ich schreiben – etwa, weil das mein Beruf ist? Es gibt keine Berufe mehr, außer Pflegepersonal, Totengräber und Dr. Drosten. Alles andere zersetzt sich in seiner immanenten Nutzlosigkeit wie in Schwefelsäure. Die Stunde der Wahrheit ist gekommen. Die Spreu trennt sich von der Spreu und geht dabei in Flammen auf.
Langeweile: Das Privileg der Jugend?
Am frustrierendsten muss sich das für die Berufe anfühlen, die schon immer sinnlos waren. So sehe ich vor der Corona-Schau um acht versehentlich noch den Rest der Börsennachrichten. Trader lenken kein Taxi, sie backen kein Brot, sie malen kein Bild. Ich hatte für dieses eitle Papiergeschacher nie mehr als Verachtung übrig, doch die im Angesicht der ins Bodenlose stürzenden Kurse weinenden Börsenmenschen machen mir plötzlich Angst. Es ist fast so, als hätte ich etwas mit ihrem Leid zu tun, und ich fürchte, das habe ich auch.
Ich könnte ein Buch lesen, doch die Aussicht auf den monatelangen, ungehinderten Abbau des Lesestapels bringt meinen Puls fast auf Null. Plötzlich frage ich mich, was ich damit soll, und vor allem wozu. Nur, um den Widerhall in meinem leeren Kopf mit dem Buchstabenbrei zu dämpfen? Und was soll ich mit Netflix, was soll denn bitte noch irgendjemand mit irgendwas?
Ich könnte einen Blick in die Zeitung werfen. Die Sportseite habe ich ja immer gern gelesen. Ergebnisse, Tabellen, Spielberichte. Aber da waren gestern nur die Vorberichte über Geisterspiele drin. Und heute? Die Absagen derselben Geisterspiele. Wenn alles abgesagt ist, können sie die Sportseite einstellen. Sie können überhaupt alles einstellen. Jede Seite ist ohnehin nur voller Corona, Corinna, Corolla, Carola. Mir ist so langweilig.
Langeweile ist normalerweise ein Privileg der Jugend und der Kindheit. Die Zeit verläuft so langsam, man hat schier unendlich viel davon. Dagegen hat man kaum Taktiken zur eigenen Dauerbetriebsamkeit entwickelt, und wo es Pflichten gibt, sind diese meist vom Feind aufoktroyiert, so dass man sich ihrer naturgemäß schnell und billig zu entledigen sucht.
„Ich“ ist ein Synonym für Arschloch
Anschließend sitzt das Kind dann da und hat gepflegte Langeweile. Lange Sonntagnachmittage, an denen ich stundenlang tränenden Auges und untätig aus dem Fenster starrte, mich gleichzeitig verfluchend, dass ich die wertvolle Zeit wie gelähmt vertat, denn anderntags würde auch nur eine entsetzliche neue Schulwoche beginnen.
Später hatte ich niemals wieder Langeweile, sondern eher das Gefühl, nie genug Zeit für alles das zu haben, was ich gern erledigen wollte. Das ist nun vorbei, denn jetzt habe ich Alte-Leute-Langeweile und die fühlt sich viel schlimmer an als die des Jugendlichen. Wissentlich verschwenderischer. Schuldhaft. Deprimierend. Es ist, als warte man auf einen Bus nach Nirgendwo, von dem man weiß, dass er nicht kommt, weil er längst den Betrieb eingestellt hat.
Uli Hannemann gehört zur 1996 gegründeten Lesebühne LSD – Liebe Statt Drogen. Die LSD-Crew lädt seither jeden (!) Dienstagabend in den Schokoladen ein. Bis zum Lockdown: Ab Di., den 17. März, wurden die Lesungen für die nächsten Wochen vor Publikum abgesagt. Dafür gibt es die LSD-Lesungen nun immer dienstags ab 20 Uhr als Livestream unter: liebestattdrogen.wordpress.com. Auch den Kollegen von der Reformbühne Heim & Welt kann sonntags ab 20 Uhr via Stream gelauscht werden: www.facebook.com/reformbuehn
Nicht schreiben, nicht fernsehen, nicht lesen, nicht essen. Kein Appetit. So weit ist es schon. Kein Fernsehfußball am Wochenende, die Geisterspiele sind ja abgesagt. Keine Lesebühne. Kein Fußballtraining für mich auch am Mittwoch, die Sportplätze sind gesperrt. Kein Kino, kein Bier, kein geselliges Beisammensein. Alles was schön ist, wird verboten – was weder religiöse Fundamentalisten, Helmholtzplatzis noch die bayerische Polizei vermochten, schafft dieses Virus im Handumdrehen.
Und, ja, ich gebe es zu: Ich hätte wohl zu spät von meinem Spaßprogramm gelassen. Für jemanden, der Lunge, Hirn und Leber anscheinend für so verzichtbar wie den Blinddarm hält, ist das nur logisch. Ohne Helm, Gurt und Gummi – was kostet die Welt?
Ich persönlich fürchte mich weniger vor der Krankheit als vor Depression und Langeweile. Aber „Ich persönlich“ ist auch meistens nur ein Synonym für Arschloch. Wir haben nun mal nur 107 kompetente Lungenärzte für 28.000 Intensivbetten. Genau deshalb bin ich froh, dass für mich so entschieden wurde. Idioten, Hedonisten und Harthörige muss man zur Vernunft einfach zwingen. Gähn.
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