„Copservation“ über Polizeivergehen: „Das Einzelfall-Narrativ ist absurd“
Das Netzwerk „Copservation“ will polizeiliches Fehlverhalten dokumentieren. Fast jeden Tag erhalten die Mitglieder in sozialen Medien Berichte über Vergehen.
taz: In Dessau ist vor Kurzem eine Polizistin suspendiert worden, weil sie eine Brieffreundschaft mit dem rechtsextremen Attentäter von Halle geführt hat. Schon wieder ein sogenannter Einzelfall in der Polizei?
Copservation: Die Dessauer Polizei hat mit vier Todesfällen traurige Bekanntheit erreicht: Hans-Jürgen Rose, Mario Bichtemann, Oury Jalloh und Yangjie Li. Bei diesen Fällen wird Polizist:innen vorgeworfen, direkt am Tod der Personen beteiligt gewesen zu sein oder die Untersuchungen vertuschen zu wollen. Alle Fälle haben gemeinsam, dass die Ermittlungen gegen die beteiligten Polizist:innen eingestellt wurden – trotz schwerwiegender Vorwürfe und konträrer Zeug:innenaussagen.
Deshalb ist es auch nicht verwunderlich, dass Polizist:innen, die Kontakt mit Rechtsextremen pflegen, bei der Dessauer Polizei arbeiten können, bis das öffentlich wird, wie jetzt zuletzt bei der Polizeikommissarin. Bei der Anzahl und Schwere der Vorfälle erneut das Narrativ des Einzelfalls zu verwenden, ist unserer Ansicht nach einfach nur absurd.
Mit „Copservation“ haben Sie es sich zum Ziel gemacht, verschiedenste Fälle von polizeilichem Fehlverhalten zu dokumentieren, über die seit 1990 in der Presse berichtet wurde. Was wollen Sie damit erreichen?
Copservation stellt eine umfassende Chronik von Berichten zu umstrittenem Polizeiverhalten in der BRD seit 1990 bereit und arbeitet diese kartographisch auf. Die Gruppe parteiunabhängiger und unentgeltlich arbeitender Menschen hat es sich zur Aufgabe gemacht, Fälle kontroversen polizeilichen Handelns deutschlandweit zusammenzuführen. Grundlage für die Recherchearbeit sind dabei journalistisch aufgearbeitete Artikel und Berichte öffentlich zugänglicher Print- und Onlinemedien.
Wir haben oft das Argument gehört: Okay, aber 98 Prozent der Polizist:innen sind rechtschaffen. Weil wir politisch interessiert sind und uns auch schon länger mit dem Thema beschäftigen, ist uns aufgefallen, dass es sehr viele Fälle gibt, die nicht öffentlich bekannt sind. Wir bekommen fast jeden Tag Presseberichte über Polizeivergehen über soziale Medien zugespielt. Wir wollen vermitteln: Es gibt eben nicht nur die paar bekannten Fälle. Und wir wollen sicherstellen, dass die Politik sich nicht darauf ausruhen kann, dass nur ein paar große Fälle ans Tageslicht kommen. Sondern auch die kleinen so zusammengetragen werden, dass man am Ende der Wirklichkeit näher kommt.
Das schreiben Sie auch auf Ihrer Website: „Wir vermuten einen strukturell begründeten, problematischen Dauerzustand innerhalb der deutschen Polizei.“ Wie kommen Sie darauf?
Eine Studie der Ruhr-Universität in Bochum geht davon aus, dass das Dunkelfeld von polizeilichem Fehlverhalten mehr als fünfmal größer ist als das Hellfeld. Laut der Studie wird in 86 Prozent der Vorfälle kein Strafverfahren eingeleitet. Blicken wir mal zurück in der deutschen Geschichte ab der Wende: Polizist:innen haben schon in den 1990er Jahren bei Berlin und in Brandenburg Vietnames:innen verprügelt. Im Rahmen des Hamburger Polizeiskandals wurde von Scheinhinrichtungen berichtet. Beim G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 soll die Polizei die Grundrechte der Demonstrierenden verletzt haben. Wir sehen darin einen Dauerzustand, der sich über 30 Jahre hinzieht.
Woran liegt das?
Wir sehen selten einen Aufklärungswillen unter Polizist:innen selbst. Zusätzlich hat die Polizei eine große Lobby innerhalb der Berichterstattung und der weißen Mehrheitsgesellschaft. Vergehen in der Polizei werden oft nur durch Zufall entdeckt, sodass wir davon ausgehen müssen, dass die wirkliche Anzahl sehr hoch ist. Ein Beispiel sind die rechten Chatgruppen in Nordrhein-Westfalen, die 2020 aufgeflogen sind. Man hat die erste Chatgruppe entdeckt, dann nach und nach immer mehr. Aber eben nur, weil durch Zufall in ein Wespennest gestochen wurde.
Aber ist das schon ein strukturelles Problem?
Es endet ja nicht bei Einzelpersonen. Wenn in einer Chatgruppe fünf Personen extremistische Symbole teilen, was ist dann mit den anderen 35 Menschen, die still mitlesen? Ein anderes Beispiel: In Schönfließ bei Berlin hat 2008 ein Polizist einen flüchtigen Mann erschossen und wurde dafür zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Seine Kolleginnen, die dabei waren, haben bei ihrer Aussage nicht die Wahrheit gesagt oder angegeben, dass sie sich nicht erinnern. Eines wird auf einmal zu drei Fehlverhalten.
Es gibt Beispiele von Polizist:innen, die trotz Fehlverhaltens Karriere machen oder zumindest im Dienst bleiben konnten. Ein Polizist in Brandenburg hat nachweislich an Neonazi-„Heldengedenkmärschen“ teilgenommen. Als das rauskam, wurde er versetzt. In der nächsten Dienststelle fiel er wieder durch rassistische Verhaltensweisen auf. Man fragt sich: Warum sind sie nicht schon beim ersten Vergehen rausgeflogen? Wenn man all diese Akteur:innen mit berücksichtigt, zeigt sich ein dauerhaftes Problem.
Bundesinnenminister Seehofer hat sich lange gegen eine Studie zu Gewalt und Rassismus in der Polizei gewehrt. Müsste die Politik nicht mehr Aufklärungswillen zeigen?
Da sehen wir leider ähnliche Muster. Ein Beispiel ist Lorenz Caffier. Der CDU-Politiker war 14 Jahre Innenminister von Mecklenburg-Vorpommern, trotz Polizeiskandalen und Menschenrechtsverletzungen, die durch das Europäische Gericht festgestellt worden sind. In seiner Amtszeit entstand 2016 das rechtsextreme Prepper-Netzwerk Nordkreuz mit vielen Mitgliedern aus Polizei und Bundeswehr. Und auch da fragen wir uns: Warum werden keine politischen Konsequenzen gezogen?
Die gab es erst, als bekannt wurde, dass er wohl eine Waffe von dem Schießstand in Güstrow gekauft haben soll, der auch Nordkreuz als Umschlagplatz gedient hat. Das ist erschreckend: Es scheint, als werde nicht proaktiv gehandelt, sondern erst mit dem zufälligen Aufdecken des Problems zugegeben, dass es ein Problem gibt. Und Politiker:innen mit Polizeiskandalen können jahrelang ohne Konsequenzen im Amt bleiben.
Was war die Motivation, ein so umfassendes Projekt ehrenamtlich zu beginnen?
Manche von uns kommen ursprünglich aus Mecklenburg-Vorpommern. Freunde von uns standen auf der „Tag X“-Todesliste von Nordkreuz. Wir dachten: Wenn das solche Ausmaße einnimmt und in unsere Freund:innenkreise eindringt, dann müssen wir irgendwas tun. Wenn es die Politik schon nicht macht. Ein zweiter Grund ist die Ermordung von George Floyd. Zu sehen, dass viele Menschen in Deutschland, die von rassistischer Polizeigewalt betroffen sind, ihre Stimme erheben, hat uns bestärkt, das Projekt zu beginnen.
Rechte Terrorgruppen wie NSU 2.0 und Nordkreuz haben über Polizeicomputer persönliche Daten gesammelt und Menschen damit bedroht. Ist Ihre Arbeit gefährlich?
Wir machen uns durchaus Gedanken über unsere Sicherheit. Schließlich wissen wir, dass politische Gegner:innen Todeslisten anlegen. Entsprechend haben wir Vorkehrungen getroffen. Zum Beispiel versuchen wir, relativ wenig über uns als Privatpersonen öffentlich werden zu lassen. Aber das wirklich Beunruhigende daran ist ja, dass man sich darüber überhaupt Gedanken machen muss, nur, weil man über Polizeivergehen berichtet. Das kann einem schon Sorgen bereiten, wenn man überlegt, wie es um diese Behörde bestellt sein muss, die eigentlich für unsere Sicherheit sorgen soll.
Sie haben sich entschieden, auch Vergehen zu dokumentieren, die Polizist:innen außerhalb des Dienstes begangen haben. Manch eine:r würde sagen: Was man in der Freizeit anstellt, hat doch eigentlich nichts mit dem Beruf zu tun.
Klar kann man das sagen. Aber wir sehen bei Polizist:innen eine besondere Verantwortung gegenüber den Mitbürger:innen. Sie werden an Waffen ausgebildet und lernen beruflich, Menschen zu überwältigen. Und deswegen finden wir es auch wichtig, an ihr Freizeitverhalten andere Maßstäbe anzulegen. Wenn Polizist:innen sich auf den „Tag X“ vorbereiten, ist das unter anderem in der Freizeit. Das kann man nicht trennen. Das Bundesbeamtengesetz, Paragraf 61, sagt, dass das Verhalten innerhalb und außerhalb des Dienstes der Achtung und dem Vertrauen gerecht werden muss, die der Beruf erfordert. Wenn ein Polizist Feierabend hat, legt er zwar die Uniform ab, aber nicht die Pflichten.
Insgesamt sind etwas weniger als 800 Fälle eingezeichnet. Klingt das nicht fast etwas wenig, seit 1990?
Es ist kompliziert. Wir sind abhängig von der Berichterstattung, auf die wir uns größtenteils stützen. In manchen Zeitungsberichten heißt es beispielsweise: Letztes Jahr gab es 150 Ermittlungen wegen Rechtsextremismus in der Polizei von NRW. Und weil wir nur diese Information haben, müssen wir 150 Fälle als einen aufnehmen. Das schmälert die Zahl. Und viele Fälle, die wir bereits recherchiert haben, müssen erst noch in der Datenbank erfasst werden.
Schaut man auf die „Copservation“-Karte, gibt es nur 23 Fälle von Racial Profiling. Widersprechen Sie nicht so Ihrem Anliegen, statt es zu stützen?
Ja, das stimmt. Wenn man alle Berichte von Betroffenen und Initiativen mit aufnehmen würde, dann wäre die Zahl deutlich größer. Dazu kommt, dass Menschen, die von Racial Profiling betroffen sind, keine Lobby haben, deshalb werden auch weniger der Fälle bekannt. Aber selbst Berlins Innensenator Andreas Geisel hat inzwischen zugegeben, dass Racial Profiling scheinbar zur polizeilichen Praxis gehört.
Gerade letzte Woche hat die Berliner Polizei erstmals einen Fall von Racial Profiling als solchen anerkannt. Uns ist bewusst, dass wir nur die Spitze eines Eisbergs abbilden können: Die Karte hat Aussagekraft, aber sie wird nie vollständig sein. Schon die Zahl der bereits bekannten Fälle von polizeilichen Vergehen ist so hoch, dass wir damit kaum hinterherkommen. Es liegt noch viel Arbeit vor uns.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Krieg in der Ukraine
Geschenk mit Eskalation
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin