Compilation „Woman, Life, Freedom“: Mehr als akustisches Parfum
Ästhetische Erfahrungen können Solidarität schaffen: Die Kompilation „Woman, Life, Freedom“ iranischer Musiker*innen ist ein gutes Beispiel dafür.
Wow, dieser Sound. Er fühlt sich an wie warmes Wasser, das den Körper umhüllt. Er klingt wie rückwärtsgespult, oder nein, wie eine Welle, die sich langsam aufbäumt und bricht. Aber sie fließt nicht sofort wieder zurück, sie hängt in der Luft, als sei sie auf Pause gestellt.
Dann stürzt sie hinab und wird wieder eins mit dem Ozean – und was zunächst wie ein einzelner Klang wirkte, besteht eigentlich aus vielen einzelnen Klängen. Eine Welt in einer Welt.
Der fünfminütige Ambient-Track „Emanation“ der iranischen Musikerin und Komponistin Kimia Koochakzadeh Yazdi ist ein Highlight der Compilation „Woman, Life, Freedom“. Und auch das ähnlich atmosphärische Stück „Sarnevesht“ von Nesa Azadikhah mit seiner zähflüssigen Synthesizermelodie und dem düsteren Hintergrunddröhnen sowie der energetische Elektro-Pop-Song „Be Mahsa Be Nika“ von Mentrix sind wunderbar abstrakt.
Sie scheinen die Welt nicht abzubilden, sondern neue Welten zu erschaffen. Utopische, schöne Welten, in denen es ums Zuhören, Tanzen, Verharren geht oder nur darum, da und zugleich so zu sein, wie es gerade beliebt. Welten, die im krassen Kontrast zu jener stehen, in der all das kaum möglich ist.
Various Artists
„Woman, Life, Freedom“
(Apranik Records)
Der Sampler des iranisch-US-amerikanischen Labels Apranik positioniert sich mit den 12 Stücken von iranischen Musiker*innen gegen das menschen- und frauenfeindliche Terrorregime in Iran unter dem Präsidenten Ebrahim Raisi. Wo Mädchen schon ab neun Jahren verheiratet werden dürfen, wo sie beim Tragen von Sportsocken von der Schule verwiesen werden können und wo Frauen wegen des falschen Tragens eines Kopftuchs sterben müssen.
So wie die 22-jährige Jina Mahsa Amini, die im Herbst 2022 in Polizeigewahrsam brutal umgebracht wurde und deren Tod die landesweiten Proteste auslöste.
Schöpfung einer neuen Welt
Was kann ein Sampler und was können die womöglich vorwiegend euroamerikanischen und US-amerikanischen Hörer*innen zu diesem Protest beitragen? Sollten die sich nicht vielmehr informieren oder Allianzen aufbauen, statt Musik zu hören?
Es ist zynisch, diese Frage auch nur zu stellen. Eine rein informationsbasierte Erfahrung ist anders als eine ästhetische.
Erstere versucht eine möglichst neutrale Beschreibung von dem, was gegeben ist. Eine ästhetische Erfahrung schafft Solidarität mit dem, was gegeben ist. Gerade weil Musik für viele oft nur so was ist wie akustisches Parfum oder Stimmungsmodulation beim Ausfüllen von Excel-Tabellen, lohnt es sich daran zu erinnern, dass elektronische Musik einst erfunden wurde, um persönlichen Ausdruck und individuelle Freiheit zu feiern – etwa in Schwarzen und LGTBQ-Communities.
Ihre enorme Kraft besteht nicht darin, die Welt eins zu eins abzubilden oder mit Slogans zu überladen, sondern neue, bessere zu erschaffen. Eine Welt in einer Welt. Für die, wenn nötig, auch mit ästhetischen Waffen gekämpft werden muss.
Dieser Text stammt aus der Verlagsbeilage „Global Pop“
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