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Comic über Ostberlin zur WendezeitIm Westen so bunt

Sandra Rummlers Debütcomic „Seid befreit“ übers Aufwachsen in der DDR und zur Wendezeit erzählt von Befreiung und Entwurzelung zugleich.

Ostberlin war farblos und der Rest bunt, selbst die grauen Tauben Foto: Sandra Rummler/Avant-Verlag 2023

„Alles so schön bunt hier!“, singt Nina Hagen über die BRD in „Ich glotz TV“, einem Song, der sich auf ihrem 1978 erschienen Debütalbum befindet. Ähnlich empfindet es die 13-jährige Mo in dem Comic „Seid befreit“, als sie, von Eltern und Schwester begleitet, im Herbst 1989 erstmals durch West-Berlin laufen kann: „Menschenmassen drängten sich durch die Straßen, überall blinkte und leuchtete es. So viele Geschäfte! Wir saugten alles in uns auf.“ Es ist dann fast zu viel des Guten: „Erschöpft von den vielen Eindrücken, war ich froh, in den dunklen und leeren Teil Berlins zurückzukehren.“

In ihm, in einer alten Mietskaserne, die direkt neben der Mauer steht, wächst Mo auf. Die Straße ist Sperrgebiet; außer von denen, die dort wohnen, darf das Haus nur mit Genehmigung betreten werden: „Manchmal hörten ich und meine jüngere Schwester in unserem Kinderzimmer die Grenzpolizisten über den Dachboden laufen.“ Mos Eltern sind fest in das DDR-System integriert. Der Vater arbeitet für die Armee, die Mutter im Ministerium für Kultur.

Mo aber ist auf eine stille Weise aufsässig. Das Leistungsturnen, zu dem sie, gerade fünf Jahre alt, verpflichtet werden soll, bricht sie ab. Sie schwänzt die Schule, zeichnet lieber oder besucht ihre Oma, die Geschichten vom Krieg erzählt.

Das Buch

Sandra Rummler: „Seid befreit“. Avant-Verlag, Berlin 2023. 264 Seiten, 29 Euro

Die Zeit nach der Wende ist für sie dann mit dem Versprechen einer nahezu anarchischen Freiheit verbunden: „Die Ruinen der Stadt füllten sich mit Leben. Jeder machte, was er wollte.“ Schnell zeigen sich allerdings Schattenseiten. Nazi-Skins wollen Mo verprügeln; in ihrer neuen Schule wird sie als doofer Ossi beschimpft. Der Vater verliert seinen Job; die Mutter muss, „erschöpft und traurig“, als Supermarktkassiererin arbeiten. Für all die schönen Dinge, die es nun zu kaufen gibt, hat Mo kein Geld.

Ihre seelische Unbehaustheit

Am Ende des Bands stellt die erwachsene Mo fest: „Ich lebe heute in einem anderen Land, ohne jemals umgezogen zu sein.“ Dieses seltsame Gefühl zwischen Entwurzelung und Befreiung spiegelt sich schon in der grafischen Gestaltung des Titels auf dem Cover. Das „f“ in „Seid befreit“ ist blau unterlegt und anders geschrieben, sodass man auch „Seid bereit“ lesen kann – den Pionier-Slogan, der während eines Fahnenappells an Mos Schule erschallt.

Nächtliches Ostberlin kurz nach der Wende, irgendwie unwirklich, verträumt Foto: Sandra Rummler/Avant-Verlag 2023

Im Grunde lebt Mo schon als Kind in zwei Ländern: real in der DDR, in ihren Träumen in dem sagenhaften Land jenseits der Mauer, dem „Ort meiner Fantasie“, wie sie ihn nennt. Das Symbol dieser Sehnsucht ist eine Taube, die mehrfach im Comic auftaucht und im wiedervereinigten Deutschland dann auf Mos seelische Unbehaustheit und ihren Wunsch nach Geborgenheit verweist.

Es sind ihre eigenen Erfahrungen, die Sandra Rummler in der Gestalt der Mo hier schildert. Rummler ist Malerin, Illustratorin und Graffiti-Künstlerin; „Seid befreit“ ist ihre erste Graphic Novel. Auffällig ist der starke Kontrast, den sie in ihren Bildern zwischen Figuren und Dekor herstellt – auch dies darf man wohl als Visualisierung einer inneren Gespaltenheit, einer Entfremdung zwischen Ich und Umwelt verstehen. Menschen zeichnet Rummler unter Verzicht auf Perspektive flächig und absichtsvoll naiv, im Stil von Kinderzeichnungen. Die Figuren stehen wie ausgeschnitten vor der Aquarellpracht der Hintergründe, die Berliner Stadtansichten zeigen.

Mit ihrer kunstvollen Farbgebung evoziert Rummler ganz unterschiedliche Stimmungen, die Ruhe und Tristesse des Ostens ebenso wie die bunte Bewegtheit des Westens.

Auf einer Doppelseite ganz in Blau getaucht, mit leichten Anklängen von Klimt und Hundertwasser, wirkt das nächtliche Berlin plötzlich wie eine Märchenstadt. Im Zusammenhang mit der zunehmend unruhigen Lage in der DDR des Sommers 1989 zeigt eine Seite die Mauer; über ihr steht der lakonische Satz: „Die Regierung schwieg.“ Knapper und treffender kann man die zementierte Erstarrung des realen Sozialismus und seiner politischen Elite nicht ironisieren. Vieles von dem, was in „Seid befreit“ erzählt, ist einem schon aus anderen Erinnerungen an die DDR bekannt. Die Bilder aber, die Sandra Rummler gefunden hat, sind neu und aufregend.

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