Christian Jakob über die Irrfahrt der „Aquarius“: Erneut ein unwürdiges Schauspiel
Es ist mindestens das sechste Mal in Folge, dass ein Rettungsschiff im Mittelmeer erst nach tagelangen Verhandlungen in einen Hafen einlaufen darf. Joseph Muscat, der Regierungschef von Malta, lobte die „Aquarius“-Einigung als „konkretes Beispiel für europäische Führung und Solidarität“. Sein spanischer Amtskollege Pedro Sánchez sprach von einem „bahnbrechenden Abkommen“. Das Gegenteil ist der Fall: Es ist eine Absurdität sondergleichen. Die Hängepartien belegen, dass es „europäische Führung und Solidarität“ eben gerade nicht gibt. Denn sonst gäbe es längst ein funktionierendes Verfahren, wie mit den Flüchtlingen umzugehen ist.
Stattdessen musste sich die EU-Kommission einschalten, und wie schon bei der letzten „Aquarius“-Fahrt schachern nun Regierungschefs und Minister einiger der größten Staaten Europas darum, wer jetzt noch die letzten fünf Flüchtlinge aufnimmt – ein unwürdiges Schauspiel. Sie tun damit ad hoc, für jeden Einzelfall aufs Neue, was ihnen auf EU-Ebene seit Jahren nicht gelingt: einen Modus der Verteilung von Flüchtlingen finden.
Ausbaden müssen dieses Prozedere die Geflüchteten selbst: Zum einen kommt die Verhandlungsmaschinerie nur dann in Gang, wenn nach mehreren Tagen auf den überfüllten Schiffen ein gewisser Leidensdruck aufgebaut ist. Die Verhandlungen ziehen sich tagelang hin, und die Geflüchteten können sich nie darauf verlassen, am Ende tatsächlich aufgenommen zu werden.
Die verbleibenden Seerettungs-NGOs sind jedes Mal auf Tage blockiert, ihre UnterstützerInnen jedes Mal aufs Neue gezwungen, maximalen öffentlichen Druck aufzubauen, damit die Politik sich bewegt. Die EU wird nicht daran vorbeikommen, sich auf ein Verfahren zu einigen, das die Realitäten anerkennt: Italien und Osteuropa fallen für die Flüchtlingsaufnahme vorerst aus. Die übrigen Staaten sollten jetzt auf die enorme Hilfsbereitschaft vieler Städte und Regionen setzen, die sich in den letzten Tagen und Wochen als Zufluchtsorte angeboten haben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen