China verpflichtet zur Elternvisite: Los geht's zum Zwangsbesuch
Chinas Führung reagiert auf die Folgen der Ein-Kind-Politik. Sie verdonnert erwachsene Kinder und Enkel zum Besuch der greisen Eltern und Großeltern.
SCHANGHAI taz | Eigentlich besucht Xu Bei ihre Eltern gern. Seit drei Jahren lebt die 34-Jährige in Schanghai. Doch mehr als zwei Mal im Jahr schafft sie es nicht in ihr Heimatdorf in der Provinz Anhui, 800 Kilometer von Schanghai entfernt.
„Ich muss selbst an Feiertagen oft arbeiten“, sagt Xu. „Da fehlt Zeit für eine Reise zu den Eltern.“ Doch jetzt ist sie dazu verpflichtet. Erwachsene Kinder und Enkelkinder in China sind seit dem 1. Juli gesetzlich dazu angehalten, regelmäßig ihre greisen Eltern und Großeltern zu besuchen.
Das modifizierte Gesetz zum „Schutz der Rechte und Interessen älterer Menschen“ schreibt vor, dass alle über 60 Anspruch auf regelmäßigen Kontakt mit Verwandten haben. Wie oft, sagt das Gesetz nicht genau. Staatszeitungen schreiben jedoch von „alle zwei Monate“.
Dass es der Führung ernst ist, zeigte sich schon am Tag danach: In der ostchinesischen Stadt Wuxi kam es schon zur ersten Verurteilung. Ein Gericht verdonnerte die Tochter einer gehbehinderten 77-Jährigen dazu, ihre Mutter an mindestens zwei der elf nationalen Feiertage zu besuchen. Sollte die Tochter das nicht machen, drohen ihr und ihrem Gatten Strafzahlungen bis hin zum Gefängnis.
In den letzten Monaten hatten Berichte über vernachlässigte und misshandelte alte Menschen in Medien und sozialen Netzwerken für Empörung gesorgt. Besonders schockierend waren für viele zu Jahresanfang Bilder von einem Kellerloch im nordchinesischen Harbin gewesen, in dem Dutzende verwahrloster alter Menschen lebten. Sie hatten keine Angehörigen, die sich um sie kümmerten.
Zahl der Alten steigt drastisch
Laut Statistikbehörde sind in der Volksrepublik derzeit 200 Millionen der 1,3 Milliarden Menschen älter als 60 Jahre alt. Diese Zahl wird in Zukunft drastisch steigen. Denn die Baby-Boom-Generation der 1950er und 60er Jahre wird in den nächsten zehn Jahren das Rentenalter erreichen. Chinas Akademie der Sozialwissenschaften geht davon aus, dass sich der Anteil der Alten bereits 2030 auf über 30 Prozent der Bevölkerung verdoppelt haben wird.
Wegen der 1980 eingeführten Einkindpolitik müssen heute immer mehr junge Menschen sich um immer mehr greise Eltern und Großeltern kümmern. Jetzt schon kommen auf ein Ehepaar zwischen 30 und 40 Jahre vier Elternteile im Greisenalter und oft noch Großeltern.
Geschwister, unter denen sich die Fürsorge aufteilen ließe, gibt es kaum. Der Aufbau einer staatlichen Altenpflege ist erst am Anfang. Dabei dürften die derzeitig über 60-Jährigen kaum noch in den Genuss dieser Leistungen kommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken