China und Produktpiraterie: Markenklau lohnt nicht mehr
Textilarbeiter Xue Chenliang erhält nicht einmal den Mindestlohn. Trotzdem ist er seiner Firma dankbar: Der Weiterverkauf von Ausschussware auf dem Markt bringt seiner Familie bescheidenen Wohlstand.
Die Anwerber standen bereits am Busbahnhof. Vor vier Jahren kam Xue Chenliang in der südchinesischen Industriestadt Dongguan an. Er hatte noch nicht einmal seine Koffer aus dem Gepäckraum herausgeholt, da heuerten die Vertreter der Textilfabrik mit dem simplen Namen "Dongguang Sport Supply" ihn bereits an. Illusionen machte er sich damals keine. "Ich wusste von meinem Cousin, wie hart die Arbeit in der Fabrik ist", erzählt der heute 26-Jährige. "Aber ich war froh, überhaupt einen Job zu bekommen."
Sein Cousin hatte ihm nicht zu wenig versprochen: Acht Stunden am Tag war er dem Gestank von giftigen Klebstoffen und Lösungsmitteln ausgesetzt. Für das Kleben von Turnschuhsohlen bekam er weniger als den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Überstunden wurden ihm nicht vergütet. Und trotzdem meinte es die Firma nicht nur schlecht mit ihm. "Sie hat mich reich gemacht", sagt er heute. Wie bitte?
Dongguan in der südchinesischen Provinz Kanton - das ist vor allem die Werkbank für Sportartikel. Turnschuhe, Gore-Tex-Jacken, Lederbälle, Muskelshirts und Jogginghosen - von hier aus beliefert China die ganze Welt mit Sportartikeln aller großen Marken. Meistens handelt es sich um Zulieferfirmen, die nur zu einem geringen Teil exklusiv eine Marke mit Nachschub versorgen. Häufiger ist, dass eine Produktionsstätte alle großen Marken zum Kunden hat. So auch die Firma Sport Supply. Ob Nike, Puma, Adidas oder Tchibo - sie sind alle schon Kunden von Sport-Supply gewesen. So kommt schon einmal vor, dass die etwa 600 Mitarbeiter schon mal auf einen Adidas-Schuh mit den berühmten drei Streifen die Puma-Marke drauf setzen. Und in Shanghaier Boutiken finden sich Schuhe, wo auf der Vorderseite der Nike-Swoosh zu sehen ist, während an der Knöchelseite ein Converse-Zeichen prangt.
Dann aber gibt es Ausschussware, die in Import-Export-Geschäften, auf Russenmärkten im Westen auch unter "gefälschter Ware" verbucht wird. Auch sie kommt meist aus denselben Produktionsstätten wie die "Originalprodukte", die irgendwann in den Flagship-Stores in Berlin, München, London und New York für teueres Geld verkauft werden. Zwischenhändler kommen in die Produktionsstätten und picken sich die sauber verabeiteten Sportschuhe und Joggingshorts heraus. Ganz nach dem Motto: Die gute Ware ins Töpfchen, die schlechte ins Kröpfchen.
Doch die Kröpfchen-Ware landet nicht auf dem Müll. So wie einige seiner anderen Kollegen packte Xue Chenlian vor zwei Jahren die Gelegenheit beim Schopf. Er kaufte der Fabrik, bei der er arbeitet, den Ausschuss für wenig Geld ab. Seine Frau kündigte ihren Job. Seitdem versucht sie, die größten Löcher zu flicken, und verhökert die ausgebesserte Ware auf einem extra für solche Waren angelegten Textilmarkt- zum Teil mit Markenaufdruck, zum Teil ohne. "Es ist ein ganz ordentlicher Zuwachsverdienst für meine Familie", sagt Xue. Und zumindest sein unmittelbarer Vorgesetzter habe nichts dagegen. Im Gegenteil: "Seine Frau verkauft selbst auf dem Markt."
Mit diesem "Zusatzverdienst" können sich Xue und seine Frau eine 56 Quadratmeter große Wohnung mit eigenem Badezimmer und Küche leisten. Einen Fernseher und einen Kühlschrank haben sie sich zugelegt. Jeden Monat wird Geld zu beiden Eltern in die Heimat geschickt. Und seit kurzem legen sie Geld zurück, um ihrer einjährigen Tochter später eine gute Schulausbildung zu ermöglichen. "Das Schicksal hat es gut mit uns gemeint", sagt Xue.
Dabei ist Dongguang eigentlich ein Mekka der Sweatshops und steht vor allem für die Kehrseite des chinesischen Wachstums: Nach einer Untersuchung der New Yorker Nichtregierungsorganisation China Labor Watch (CLW) herrschen bei vielen Lieferanten der großen Sportmarken "inhumane Zustände". Erzwungene Überstunden, nicht abgeführte Sozialbeiträge, üble hygienische Verhältnisse beim Kantinenessen und in den fabrikeigenen Wohnheimen. Dort wohnen vor allem Arbeiterinnen - zwei Drittel der Arbeiter sind Frauen. Insbesondere die Überstunden prangern die NGOs an: Obwohl gesetzlich nur 40 Stunden wöchentliche Arbeitszeit erlaubt sind, säßen viele der Arbeiterinnen bis zu 70 Stunden vor den Nähmaschinen. Vor 21 Uhr würde kaum einer Feierabend machen. Maximal 100 Euro verdienten viele der Arbeiterinnen inklusive Überstunden im Monat.
Doch der Wind scheint sich zugunsten der ArbeiterInnen zu drehen. Dass die Zentralregierung Anfang des Jahres den Mindestlohn um fast 20 Prozent erhöht hat, dürfte noch die geringeren Veränderungen mit sich bringen - die meisten Firmenleitungen haben sich auch nicht an den bisherigen Mindestlohn gehalten. Viel stärker fällt etwas anderes ins Gewicht. Was bis vor kurzem für China mit seinen 1,3 Milliarden Einwohnern unvorstellbar erschien, scheint nun wahr zu werden: Die Arbeitskräfte gehen aus. Über 20 Millionen Wanderarbeiter halten sich derzeit im südchinesischen Perlflussdelta auf - das ist die wirtschaftlich boomende Region zwischen Guangzhou, Hongkong, Shenzhen und Macau. Das aber sind Berechnungen der Akademie für Sozialwissenschaften in Peking zufolge mehr als zwei Millionen zu wenig. Der Mangel an Arbeiterinnen und Arbeiter treibe ihren Marktwert nach oben, heißt es. Die Löhne steigen. Zugleich führt das dazu, dass immer mehr Unternehmen, die auf billige Arbeitskräfte setzen, ihre zum Teil von vornherein nur auf kurze Zeit angelegten Produktionsstätten verlassen, ins Landesinnere weiter ziehen oder gar in andere Billiglöhnländer wie Bangdladesh und Indien abwandern. Die Zentralregierung in Peking begrüßt diese Entwicklung und hofft nun, dass die billige Textilindustrie verstärkt durch besser bezahlte High-Tech-Unternehmen ersetzt wird. Auch das wird Lohnsteigerungen für die Arbeiter mit sich bringen.
Wanderarbeiter Xue hingegen sorgt diese Entwicklung eher. Natürlich freue er sich, dass die Löhne steigen. Aber auch bei seiner Firma kursiert das Gerücht, die Produktionsstätte in Dongguang könnte bald dicht machen. Das aber würde auch seinen Nebenverdienst und den seiner Frau betreffen. "Nike-Schuhe lassen sich auf dem Markt leichter verkaufen als Mikrochips."
Zugleich sinkt ohnehin bereits die Nachfrage für solche Artikel: Fast anderthalb Jahrzehnte lang war der Shangyang-Kleidermarkt ein Muss für Touristen in Shanghai. Anfang der 90er Jahre erschienen in den dicht aneinandergereihten Marktständen die ersten Gore-Tex-Jacken. Dann folgten die Marken der renommierten Sporthersteller, bald war von Hugo Boss über Prada, North Face und Marlboro alles vertreten, was auf dem internationalem Modemarkt Rang und Namen hat - alles für nur ein Bruchteil der Originalpreise. Dieser Markt ist nun verschwunden. Stattdessen haben sich in der Umgebung unzählige Boutiquen angesiedelt. Auf die Frage, warum der Markt nicht mehr existiert, antwortet eine Boutiquebesitzerin: "Die Nachfrage für gefälschte Markenware ist einfach nicht mehr da." Die ganz armen Chinesen vom Land würden diese Marken nicht kennen. Die ausländischen Schnäppchenjäger haben schon immer nur einen Bruchteil des Umsatzes ausgemacht. Und der reiche Mittelstand, der die Marken kennt, habe kein Interesse mehr an der Ausschussware. "Wer es sich leisten kann, kauft jetzt das Original."
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