Chilenischer Anti-Western „Colonos“: Ikonen der Barbarei

Bilder biblischer Schwere, Grausamkeiten gegen Indigene in Feuerland: Der Debütfilm „Colonos“ von Felipe Gálvez Haberle ist ein Anti-Western.

Ein Mann auf einem Pferd zielt mit Pistole auf einen anderen Mann, der direkt vor ihm steht. Der Arm mit der Wadffe ist gestreckt. Die Waffe endet direkt im Gesicht.

Gleich spritzt die Hirnmasse raus: „Colonos“ Foto: Mubi

Ein Spaten bohrt sich unter schwerem Tritt in den festen Grund, dann wird ein Pfahl in die widerstrebende Erde gerammt, ein Stahlseil mit größter Kraftanstrengung darum gespannt: Angepeitscht von unnachgiebigem Wind arbeitet ein Tross wettergegerbter Männer an einem monumentalen Zaun.

Es scheint, als würde dieser Zaun bereits bis an den Horizont reichen und die karge Weite der Isla Grande de Tierra del Fuego, Hauptinsel des unwirtlichen Feuerland-Archipels, entzweien wollen.

Wie genau es zum Unfall kommt, ist nicht zu sehen. Es wirkt allerdings so, als würde sich die Erde in diesem finsteren Anti-Western ein erstes Mal unbeeindruckt von den Machenschaften der Menschen zeigen, als wenige Augenblicke später ein Arbeiter am Boden liegt, sein abgetrennter Arm neben ihm.

Einarmiger Bandit

Er könne weiterarbeiten, versichert er auf Deutsch. Dass die Verletzung doch nicht so schlimm sei, ruft er dem Aufseher in der roten Jacke eines britischen Soldaten entgegen, als dieser langsam seine Waffe auf ihn richtet.

Die Kamera nimmt dabei den unbeteiligten Ausdruck eines in unmittelbarer Nähe hantierenden jungen Mannes (Camilo Arancibia) in den Blick, unklar, ob er für den Tod eines Weißen schlicht kein Mitleid aufbringen kann. Gemeinhin blicken diese auf ihn als mestizo, wie die Nachfahren von Spaniern und Indigenen genannt werden, herab.

Oder möchte er aus Angst vor der Willkür der Vorgesetzten nur möglichst keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen? Segundo, so der Name des jungen Mannes, ist das faszinierende Enigma dieses mindestens so niederschmetternden wie stilistisch gewandten Spielfilmdebüts von Felipe Gálvez Haberle, die Handlung von „Colonos“ ist angesiedelt im Jahr 1901.

Kaltblütige Hinrichtung

Gemeinsam mit dem schottischen Lieutenant MacLennan (Mark Stanley), der eben noch kaltblütig einen Arbeiter hinrichtete, und dem Texaner Bill (Benjamin Westfall), der von sich behauptet, „Indianer“ über mehrere Meilen hinweg „riechen“ zu können, wird er auf eine brutale Mission geschickt.

Die Wucht, die „Colonos“ entfaltet, kommt scheint’s aus heiterem Himmel

Sie soll die riesigen Schafherden des spanischen Großgrundbesitzers José Menéndez (Alfredo Castro) noch effektiver vor den hungernden einheimischen Stämmen beschützen, als es ein Zaun, den diese offenbar immer wieder überwinden, je könnte.

Genauer: Die drei ungleichen Männer sollen einen Pfad zum Atlantik bahnen, von wo aus das Vieh verschickt werden soll. Alles – oder vielmehr: jeder –, dem sie dabei begegnen, soll – so der nur chiffriert von Menéndez persönlich vorgebrachte Auftrag – aus dem Weg geschafft werden.

Wahre Kolonialgeschichte

Man ist auf die Wucht, mit der „Colonos“ einschlägt, nicht vorbereitet. Zumindest das Gros der Zuschauer, das nicht weiter mit dieser gewaltsamen Episode der chilenischen Geschichte um die Jahrhundertwende vertraut ist. Und das dürfte die Mehrheit sein, auch außerhalb des Westens: Wie Felipe Gálvez Haberle in einem Interview erklärte, findet sich dieser Teil der Kolonialgeschichte, der Genozid an der indigenen Bevölkerung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert, nicht einmal in den Lehrplänen Chiles wieder.

Mit den unheilvollen Mustern, die dieses wohldurchdachte Debüt durchziehen, ist man hingegen sehr wohl bekannt. In „Killers of the Flower Moon“ hat man sie zuletzt in Blockbuster-Manier aufgearbeitet gesehen, die kalte Rationalität, mit der wohlhabende Weiße sich ein Land zu eigen machen, das nicht das ihre ist, dabei die Profitsteigerung zur obersten Handlungsmaxime pervertieren und im Interesse eines möglichst großen Gewinns nicht nur die Lebensgrundlage der Indigenen zerstören, sondern sie sogar aktiv auszulöschen versuchen.

Auch Felipe Gálvez Haberle kreist in seiner Erzählung um ein korrumpierendes kapitalistisches System, verfällt aber anders als Martin Scorsese weder in eine Zurschaustellung der eigenen Tugendhaftigkeit noch in eine vereinfachte Täter-Opfer-Zuschreibung, in der sich die Rolle, gut oder böse, von vornherein an der ethnischen Zugehörigkeit erkennen lassen. „Colonos“ nimmt die herrschenden Machtstrukturen ernster, ihre Zwänge ebenso wie ihre Verlockungen, und verhandelt sie eindrucksvoll an der Figur Segundo.

Aufwühlende Kompositionen

Als das Trio wider Willen bereits mehrere Tage zu Pferde durch die Pampa gestreift ist – seine sinistre Expedition stets begleitet von aufwühlenden Kompositionen aus treibendem Trommelgewirr und bedrohlichen Streichern –, kommt es zum ersten Aufeinandertreffen mit einem Zeltdorf von Indigenen. Auch Segundo, der aufgrund seiner Abstammung von den anderen beiden mit Argwohn beäugt wird, zu diesem Zeitpunkt schon zahlreiche Demütigungen durch sie erfahren hat, erhält ein Gewehr von MacLennan ausgehändigt.

„Colonos“ scheint sich während des Massakers im Morgengrauen ganz bewusst auf Segundo zu fokussieren, auf seine Möglichkeiten, es zu beenden, und das moralische Dilemma, in dem er sich befindet. Immer wieder verharrt er hinter den in grausamer Gemächlichkeit durch den Nebel wandernden Männern, die einen Schuss nach dem anderen abgeben, einen Menschen nach dem anderen niederstrecken. Segundo nimmt Bill und MacLennan abwechselnd ins Visier, entschließt sich aber stattdessen dazu, in die Luft zu feuern.

Als der Lieutenant ihn zuvor in einem der wenigen Wortwechsel des Filmes danach fragt, worauf er das Geld verwenden wird, das er bei José Menéndez verdient, lautete Segundos Antwort: Er wolle sich ein Pferd kaufen.

Drehbuch ohne Urteil

Das Drehbuch, das Felipe Gálvez Haberle gemeinsam mit Antonia Girardi verfasste, erlaubt sich kein Urteil über Segundo, seine Motive und Nöte, sondern zeigt ihn in seinen Ambivalenzen. „Colonos“ ist in erster Linie an der Darstellung der Dynamik der Gewalt interessiert, daran, wie das System tragischerweise auch von denen genährt wird, die nicht zu seinen Profiteuren gehören; wie es sie verschlingt und sie so in eine obskure Doppelrolle aus Opfer und eigener Täterschaft geraten.

„Colonos“. Regie: Felipe Gálvez Haberle. Mit Mark Stanley, Camilo Arancibia u. a. Argentinien/Chile/Dänemark/Deutschland/Frankreich/Schweden/Taiwan/Großbritannien 2023, 97 Min.

Damit thematisiert das Drama ein verhängnisvolles Schema, das sich im Laufe der Geschichte immer wieder findet. Das Fortwährende, das ihm innewohnt, bannt Simone D’Arcangelo durch seine kunstvolle Kameraarbeit in Bilder von biblischer Schwere, etwa wenn er die beiden Mörder MacLennan und Bill in Zeitlupe, das Gewehr vor der Brust, wie Ikonen der Barbarei durch Dunstschwaden schweben lässt.

Die schreckliche Sinnlosigkeit des Ganzen kommt durch lange, kontrastierende Naturaufnahmen der schier endlos wirkenden Leere von Feuerland, der hoch aufragenden Andengipfel zum Ausdruck. Es wirkt, als sähe die Landschaft zu, ewig und erhaben, mögen die kleinen Menschlein auf ihrem Rücken noch das Grausamste verüben.

Blutige Irrfahrt

Das alles macht „Colonos“ zu einem durchaus fatalistischen Film, der Gewalt als etwas zeichnet, in das die Menschen immer wieder verfallen. Im Hinblick auf die konkreten Ereignisse, von denen er erzählt, ist er allerdings keinesfalls resignativ. Nachdem er die blutige Irrfahrt von Segundo, MacLennan und Bill noch eine Weile begleitet, erfolgt ein überraschender Zeitsprung.

José Menéndez sieht stolz zu, wie seine erwachsene Tochter (Adria­na Stuven) und eine Enkelin, ordentlich drapiert im geschmackvollen Salon, am Piano Musik vortragen, als ein Gesandter (Marcelo Alonso) der Regierung eintrifft. Er wurde vom chilenischen Präsidenten geschickt, anlässlich des 100. Geburtstags der Nation wolle man endlich Frieden schließen mit den Indigenen.

Im Dialog mit José Menéndez fällt nicht nur erstmals der genaue Name der Volksgruppe, deren Genozid „Colonos“ thematisiert, sondern auch, mit welcher Skrupellosigkeit die einflussreiche Unternehmerfamilie den heute als ausgestorben geltenden Selk’nam-Stamm verfolgte.

Spitzname „das Rote Schwein“

Aus den Gesprächen wird zudem deutlich, dass es sich nicht nur bei dem lange im Hintergrund bleibenden Menéndez, sondern auch bei MacLennan, der sich in den Folgejahren durch seine Taten den vielsagenden Beinamen „das Rote Schwein“ verdiente, um historische Persönlichkeiten handelt. „Colonos“ ist damit letztlich auch ein Werk, das mit außergewöhnlicher Kunstfertigkeit und Komplexität dringend notwendige historische Aufklärungsarbeit leistet. Zwar verzichtet der Film auf abschließende Informationen, die das Geschehen einordnen würden.

Dem Werk gelingt es allerdings, eine solche Dringlichkeit zu entfalten, dass es zur weiteren Recherche anregt, die nicht weniger Niederschmetterndes bereithält: Bis heute sind Straßen nach Mac­Lennan benannt, bis heute steht eine Büste von Menéndez im chilenischen Punta Arenas, dessen Nachfahren noch ein Großteil von Feuerland gehört, nie kam es zu einer Verurteilung der zentralen Figuren hinter dem Genozid an den Selk’nam.

Man kann Regisseur Felipe Gálvez Haberle nur wünschen, dass sein beeindruckendes Debüt, das von Chile als Beitrag für die Oscarverleihung 2024 in die Kategorie bester Internationaler Film eingereicht, aber zu Unrecht übergangen wurde, eine längst überfällige Debatte anzustoßen vermag.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.