Chatten mit Kindern in Krisen: „Sie können lautlos um Hilfe rufen“
Beim Krisenchat finden Kinder und Jugendliche erste Hilfe in einem zeitgemäßen Medium. Der Bedarf sei riesig, sagt Mitgründerin Melanie Eckert.
Melanie Eckert: Manche schreiben so was, andere sind total verunsichert und fragen erst, ob sie bei uns richtig sind. Für uns heißt es dann erst einmal Hürden abbauen. Wir sagen den Kindern und den Jugendlichen, wie toll es ist, dass sie sich melden, und dass sie mit jedem Problem willkommen sind.
Mit welchen Personenkreisen und Krisen haben Sie genau zu tun?
Die jüngsten Kinder sind um die zehn Jahre alt – sie melden sich meist wegen Familienkonflikten. Aber auch häusliche Gewalt, Mobbing und Ängste sind Thema. Bei Älteren geht es mehr um Stimmungen, depressive Symptome und Ängste. Bei Mädchen in der Pubertät ist selbstverletzendes Verhalten ein großes Thema, Ritzen etwa und Essstörungen. Suizidale Gedanken kommen auch sehr häufig vor. In allen Fällen spielen Beziehungsprobleme mit, also dass keiner da ist, dem sie sich anvertrauen können, oder sie Angst vor den Reaktionen der Eltern haben. Vernachlässigung ist auch ein Problem. Wobei es häufig keinen so großen Unterschied macht, ob die Eltern physisch da sind oder nicht. Wenn sich das Kind nicht öffnen kann, ist es einsam.
Wie kann man über einen Chat helfen? Sie kommunizieren ja nur mit Kurztexten und Emojis.
Erst einmal geht es darum, Anteilnahme zu zeigen. Das geht sehr gut über einen Chat. Im nächsten Schritt versuchen wir Ressourcen zu stärken, indem wir mit dem Kind beziehungsweise Jugendlichen überlegen, was und wer ihm helfen könnte. Oft verweisen wir auch auf Schulsozialarbeiter:innen, Schulpsycholog:innen und Beratungsstellen. Wir sind nur eine erste Anlaufstelle, die langfristige Beratung oder Therapie müssen andere übernehmen.
Sind die nicht alle eh schon total überlaufen?
Ja, das ist ein großes Problem. Das ändert aber nichts daran, dass wir Kindern und Jugendlichen in Krisen Unterstützung bieten müssen. Die klassischen Angebote sind für viele jedoch nur schwer zu erreichen. Es kostet oft zu große Überwindung, um eine Beratungsstelle aufzusuchen. Hier braucht es ein niedrigschwelliges Angebot.
Aber es gibt doch Krisenberatung für Kinder und Jugendliche per Telefon.
Kinder und Jugendliche telefonieren heute aber sehr selten, sie chatten. Der Vorteil am Chatten ist auch, dass es keine Geräusche macht – sie können lautlos um Hilfe rufen. Auch sind wir mit unserem Angebot da, wo sich junge Menschen heute am meisten aufhalten: im Internet. Der Kontakt erfolgt über einen Button auf unserer Webseite. Man erfährt von uns in sozialen Medien wie Tiktok und Instagram. Jungen machen wir über Gaming-Plattformen auf uns aufmerksam.
Sie sprechen Jungen gesondert an?
Ja, die Jungenarbeit ist ein großer Fokus. Der Weg in die Hilfe ist für Jungen viel schwieriger, für die ist mentale Gesundheit oft ein Tabuthema. Dabei ist die Suizidrate bei jungen Männern um ein Vielfaches höher als bei jungen Frauen.
Kommt es vor, dass Sie bei einem Selbstmordversuch dabei sind?
Dadurch, dass man uns per Handy überallhin mitnehmen kann, passiert es gar nicht so selten, dass uns ein Kind schreibt, dass es kurz davor ist, sich etwas anzutun. Für diese Situationen haben wir mit Experten einen konkreten Leitfaden zur Krisenintervention entwickelt. Wenn die Kommunikation abbricht, schätzen wir die Situation im Zweier- oder Dreierteam kurz ein und rufen wenn nötig die Polizei. Mit der arbeiten wir sehr eng zusammen.
Oft macht sich akute Gefahr nur indirekt bemerkbar. Ist es nicht unheimlich schwer, einen solchen Subtext aus einem Chat herauszulesen? Gibt es den überhaupt?
Doch, natürlich schwingt der in den Texten und Emojis mit. Vor allem die ersten Nachrichten verraten unheimlich viel über die Person und Situation. Wir registrieren auch, wann die Person wie lange pausiert und wie oft sie sich meldet. Aus diesen Analysen können wir sehr viel schließen.
Sieht man von akuter Gefahr ab, fehlt den Berater:innen jedoch die Handhabe. Nach dem Chat haben sie keine Möglichkeit zur Kontaktaufnahme.
Ja, wir sind darauf angewiesen, dass die Person sich von selbst wieder meldet oder sich woanders Hilfe sucht. Natürlich arbeiten wir in der Beratung darauf hin. Ob sie das tatsächlich tut, wissen wir jedoch nicht.
Wie hält man das aus?
Das ist für unsere Berater:innen tatsächlich eine große Herausforderung, obwohl es sich hier ausschließlich um Fachpersonal handelt, das von uns geschult wird und Supervision bekommt. Wir wissen aber auch: gäbe es diese Form der anonymen Kontaktaufnahme nicht, würden sich ganz viele nicht an uns wenden.
Obwohl Sie stetig gewachsen sind, können 30 bis 40 Prozent der Anfragen – zurzeit sind es etwa 220 pro Tag – nicht sofort beantwortet werden. Wie groß muss Krisenchat noch werden?
Wahrscheinlich zehnmal so groß. Ob das gelingt, ist vor allem eine finanzielle Frage, wir finanzieren uns ja allein über Spenden.
Die Politik könnte hier auch etwas tun. Schließlich kümmern Sie sich hier um eine Angelegenheit, die eigentlich in öffentlicher Verantwortung liegt.
Das stimmt. Die politische Unterstützung hält sich noch stark in Grenzen. Für öffentliche Finanzierungen gibt es viel zu große bürokratische Hürden, die dringend abgebaut werden müssen. Vor allem aber müssen die Kinderrechte ins Grundgesetz. Denn dann ist die Versorgung von Kindern und Jugendlichen keine Option mehr, sondern gesetzliche Pflicht.
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