Chance Alzheimer ist unheilbar. Das weiß Norbert Heumann. Als seine Ärztin ihm von einer neuen Studie erzählt, klammert er sich an eine vage Hoffnung. Aber ist das, was er da nimmt, nicht doch nur ein Placebo?: Kribbeln im Kopf
Es war ein junger, optimistischer Arzt, der sich die Bilder ansah. Daran erinnert sich Norbert Heumann noch gut, heute, zwei Jahre nach der Untersuchung, die ihm die Diagnose brachte. Alzheimer. „Die Bilder zeigten meinen Kopf“, sagt er. „Wo freie Bahnen waren, war es weiß.“
Später war der Arzt dann doch nicht ganz so optimistisch. Er sprach von deutlichen Verkleinerungen in verschiedenen Bereichen des Gehirns, von Eiweißablagerungen. Sie machen ihn krank, sie zerstören seinen Verstand, schleichend, aber unaufhaltsam. „Der Arzt sagte, es hat keinen Zweck“, Norbert Heumann legt eine Pause ein, bevor er seinen Satz zu Ende bringt, „und ich solle besser hierherspazieren.“
Hierher, in die Gedächtnisambulanz am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim. Die Gedächtnisambulanz beschreibt sich auf ihrer Internetseite als „eine hochspezialisierte Einrichtung zur Differentialdiagnose von Hirnleistungsstörungen im Alter“. Übersetzt heißt das: Wer hier landet, der hat eine Demenzerkrankung, meistens Alzheimer.
Norbert Heumann, ein groß gewachsener, schlanker Mann, der in Jeans und T-Shirt immer noch jugendlich wirkt, sieht seine Frau an. Rita Heumann sitzt neben ihm in einem Besprechungsraum der Gedächtnisambulanz, zusammen mit Lucrezia Hausner, der Ärztin, die ihn seit einigen Monaten am Zentralinstitut betreut.
Es ist ein Dienstag im August, und die Heumanns, die ihren richtigen Namen nicht in der Zeitung stehen haben möchten, wollen erzählen, wie es ist. Wenn man mit gerade 66 Jahren, kaum ausgeschieden aus der Berufswelt als Maschinenbauingenieur in leitender Stellung, die Diagnose Alzheimer bekommt. So wie Norbert Heumann vor zwei Jahren. Wie es ist, wenn man zwar theoretisch weiß, dass es keine Aussicht auf Heilung gibt, und doch immer wieder hofft, dass es vielleicht anders kommt.
Gerade jetzt, da es einen neuen Medikamententest gibt. Der deutsche Pharmahersteller Boehringer Ingelheim erprobt einen neuen, vielversprechenden Wirkstoff gegen Alzheimer. Norbert Heumann darf als einer von wenigen hundert Patienten weltweit teilnehmen. Eine Chance, an die sich die Heumanns klammern.
Verzögern, nicht stoppen
Sie sind jetzt beide Ende 60, sie sind körperlich fit, zweimal die Woche gehen sie zusammen joggen. Sie haben eine gute Rente und wollten noch so viele Länder bereisen. „Kein Mensch glaubt ja wirklich, dass es einen selbst trifft“, sagt Rita Heumann. Sie klingt nüchtern. Den ersten Schock haben die Heumanns hinter sich gelassen.
Alzheimer, diese Hiobsbotschaft. Die Ärzte übermittelten sie Norbert Heumann, als die Krankheit noch am Anfang war. Viele Patienten verleugnen ihren Zustand über lange Zeit, trotz erheblicher Symptome. Heumann, der Ingenieur, geht Problemen auf den Grund. Er ließ sich untersuchen. Damals, als seine Frau ihm sagte, was sie auch jetzt sagt: „Er war nicht mehr der Mensch, den ich kannte.“ Die Bedeutung der Krankheit konnte er damals erfassen. Bis heute hat sich daran wenig geändert. Er sagt: „Es läuft nicht mehr so, wie es gelaufen ist früher. Manchmal denkt man über etwas nach, und es fällt einem nichts ein. Es kribbelt dann ein bisschen.“
Norbert Heumanns Augen schimmern feucht, es ist ein kurzer Moment, in dem er Einblick gewährt in das, was in ihm vorgeht. Dann fängt er sich. Er sagt: „Ich hoffe, dass ich aus der Misere rauskomme.“ Die Misere. Als Lucrezia Hausner, eine junge Frau mit viel Geduld in der Stimme, Norbert Heumann Ende vorigen Jahres in ihrer Sprechstunde kennenlernte, da sagte die Ärztin ihm und seiner Ehefrau das, was sie allen Alzheimerpatienten und deren Angehörigen sagt: dass es zwar Medikamente gibt, die die Symptome zeitweilig abmildern können. Dass diese Medikamente aber den Krankheitsverlauf bestenfalls verzögern, nicht stoppen. Patienten und Angehörige müssten ihren Weg finden, damit umzugehen.
Rita Heumann sagt: „Also wenn er jetzt aggressiv würde, das wäre schon schlimm für mich.“ Norbert Heumann sagt: „Da macht man sich nur verrückt, wenn man immer denkt: Warum ich?“
Und dann sagte die Ärztin noch etwas. Dass es eventuell für Norbert Heumann noch eine andere Option gebe. Eine Studie. Die Heumanns horchten auf.
Dass es nur unbefriedigende Arzneimittel gibt, liegt keineswegs an mangelndem Interesse der Pharmaindustrie. Nach Angaben des Verbands forschender Arzneimittelhersteller erprobt aktuell jedes dritte Mitgliedsunternehmen Wirkstoffe gegen Alzheimer. Bislang mit frustrierenden Ergebnissen. 2014 veröffentlichte das Alzheimer’s Research & Therapy Journal eine Untersuchung des amerikanischen Neurologen Jeffrey Cummings: Die von 2002 bis 2012 in klinischen Studien erprobten Medikamente ergaben eine Misserfolgsquote von 99,6 Prozent. Zum Vergleich: Üblich ist eine Misserfolgsquote von 88 Prozent, wenigstens eins von acht oder neun Projekten führt zu einer Medikamentenzulassung.
Man muss sich diese Ausgangslage klarmachen, um zu verstehen, warum den Heumanns das, was ihre Ärztin ihnen damals anbot, bis heute wie ein Joker vorkommt: Norbert Heumann konnte wählen, ob er mit einem der gängigen, aber wenig versprechenden Medikamente behandelt werden wollte – oder mit einem ganz neuen Wirkstoff, der erst in der Erprobungsphase ist. BI 409306 heißt er, entwickelt wurde er von Forschern des Konzerns Boehringer Ingelheim in Biberach am Rhein.
„Das Absterben der Zellen kann auch der neue Wirkstoff nicht verhindern“, sagt Lucrezia Hausner. Aber er kann die überlebenden Zellen, genauer gesagt diejenigen, die im Gehirn für das Lernen und für das Gedächtnis zuständig sind, in ihren Funktionen stärken. Dazu setzt das Mittel einen komplizierten biochemischen Prozess in Gang, bei dem bestimmte Enzyme blockiert und andere aktiviert werden.
Im Ergebnis können die gesunden Zellen den Attacken der Krankheit besser widerstehen und sich besser anpassen, zumindest über einen gewissen Zeitraum. Anders als bei herkömmlichen Mitteln geht es also nicht darum, bestimmte Informationsübertragungswege im Gehirn zu erhalten. Stattdessen sollen bestimmte Zellen in ihren Funktionen unterstützt werden.
Alles, nur kein Placebo
„Wir haben sofort gesagt, dass wir da mitmachen. Wenn es so bleibt, wie es jetzt ist, damit könnte ich leben“, sagt Rita Heumann. „Hauptsache, ich bleibe gesund“, sagt Norbert Heumann.
Derzeit ist BI 409306 erst in der zweiten Phase seiner Erprobung. Im Labor und im Tierversuch war es bereits erfolgreich, auch von gesunden Menschen wurde es vertragen. Jetzt wird der Wirkstoff an wenigen Hundert, gezielt ausgewählten Patienten getestet. Einer von ihnen ist Norbert Heumann. Besteht der Wirkstoff auch diese Prüfung, dann wird er an mehreren Tausend Kranken erprobt und anschließend möglicherweise als Arzneimittel zugelassen. Jahre können bis dahin vergehen. Niemand kann derzeit sagen, ob BI 409306 ein Erfolg sein wird.
„Der heutige Studienpatient wird möglicherweise nicht mehr profitieren“, sagt Lucrezia Hausner, „er weiß zudem nicht, ob er während der Studie den Wirkstoff erhält oder ein Standardmedikament oder ein Placebo. Aber seine ärztliche Betreuung ist engmaschiger. Er sieht uns alle vier Wochen anstatt nur einmal im Jahr.“
Was Norbert Heumann einnimmt, weiß weder er noch seine Ärztin. „Doppelblind“, heißt das im wissenschaftlichen Fachjargon. So sollen die Ergebnisse möglichst objektiv sein. Für die Studie wurden die Patienten in sechs Gruppen eingeteilt: Vier Gruppen bekommen den neuen Wirkstoff, jeweils in unterschiedlicher Dosis. Die fünfte Gruppe bekommt ein Standardmedikament. Und die sechste Gruppe bekommt gar keine Alzheimertherapie, sondern ein unwirksames Scheinmedikament. Nur so lassen sich verlässliche Aussagen über die Wirksamkeit des Präparats machen.
„Natürlich hofft niemand, dass er das Placebo bekommt“, sagt Lucrezia Hausner. Die Studie sei aus ethischen Gründen auf vier Monate begrenzt worden: „In dieser Zeit ist es möglich, Veränderungen in den Gehirnzellen zu messen, aber es entsteht keinem Patienten ein Behandlungsnachteil. Selbst wenn er gar keine Therapie bekommt.“ Und nach den vier Monaten, wenn die Studie zu Ende ist? „Ab dann bekommen alle Teilnehmer ein Standardmedikament.“
Etwa alle vier Wochen bringt Rita Neumann ihren Mann nun in die Gedächtnisambulanz. Er und sie berichten dann, wie er die Tabletten vertragen hat. Bislang, sagt Lucrezia Hausner, habe es weder Auffälligkeiten noch Komplikationen gegeben. Norbert Heumann sagt: „Ich fühle mich ganz normal.“
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