Cem Özdemir über Zukunft der Grünen: "Wir brauchen 15 Prozent plus x"

Der Vorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen, Cem Özdemir, über Handball, schwäbische Handwerker und die mögliche Neuauflage von Rot-Grün auf Bundesebene.

"Ich will den Wahlkreis Stuttgart gewinnen": Cem Özdemir. Bild: imago/Revierfoto

taz: Herr Özdemir, wenige wissen, dass Sie früher Handball spielten und im Tor standen. Hilft Ihnen das in der Politik?

Cem Özdemir: Ich habe in der B-Jugend des TSV Bad Urach gespielt. Es war gut zur Abhärtung, und man legt die Angst schnell ab vor Bällen, die mit Karacho auf einen zufliegen. Als Torwart muss man einstecken können.

Handballtorhüter gelten als irre. Wer lässt sich schon freiwillig Bälle ins Gesicht knallen.

Das nehme ich gern als Kompliment. Für die eigene Nase ist das ein Risiko, aber man entscheidet für das Team auch oft über Sieg oder Niederlage.

Wo spielen Sie im Spitzenteam der Grünen für die nächste Bundestagswahl mit? Ihre Partei wartet darauf, dass Sie sich mit Ihrer Ko-Chefin und den Fraktionsvorsitzenden einigen.

Es ist entscheidend, dass es im Wahlkampf zwei Parteivorsitzende gibt, die den Laden mitnehmen können. Ich finde, die haben wir, das hat der letzte Parteitag gezeigt. Und wir haben ebenso eine Fraktionsspitze, die trotz Platz fünf im Parlament die Rolle des Oppositionsführers ausfüllt. Wie die Formation am Ende genau aussieht, werden wir rechtzeitig Anfang 2013 entscheiden.

CEM ÖZDEMIR, geboren 1965 in Bad Urach, ist Erzieher und Sozialpädagoge. Er trat 1981 den Grünen bei, war von 1994 bis 2002 Mitglied des Bundestages und von 2004 bis 2009 Abgeordneter im Europäischen Parlament. Seit November 2008 ist er gemeinsam mit Claudia Roth Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen.

Viele Grüne fragen sich, ob Sie sich trauen, Spitzenmann Jürgen Trittin herauszufordern.

Jürgen Trittin spielt seit 1990 in der Minister- und Vorsitzendenliga. Er hat einen riesigen Erfahrungsschatz. Viele Gesetze, über die wir heute reden, hat er geschrieben. Mit diesem Pfund müssen wir wuchern. Ich gehöre einer anderen Generation an. Natürlich habe ich auch persönliche Ziele.

Nämlich?

Ich möchte 2012 noch einmal für den Bundesvorsitz kandidieren. Außerdem will ich mit einem vorderen Listenplatz einen guten Wahlkampf für meinen Landesverband Baden-Württemberg machen. Und ich will den Wahlkreis Stuttgart gewinnen.

Ehrgeizig. Bisher ist Hans-Christian Ströbele der einzige Grüne mit Direktmandat.

Umso reizvoller: Ströbele und ich mit Direktmandaten - das wäre doch ein schönes Bild. Hier Kreuzberg in der multikulturellen Hauptstadt, da das bürgerliche Stuttgart. Diese Bandbreite wünsche ich mir für die Partei.

Glauben Sie eigentlich ernsthaft, dass es 2013 für Rot-Grün reichen wird? Vieles deutet auf eine große Koalition hin.

Für mich ist glasklar: Die Grünen müssen bei der Wahl 2013 15 Prozent plus x holen, damit es reicht. Denn dass die SPD ein Ergebnis wie unter Gerhard Schröder holt, halte ich für unwahrscheinlich.

Aber wenn es die Piraten ins Parlament schaffen, landen Sie in der Opposition.

Es gibt eine rechnerische Mehrheit jenseits von Union und FDP, die sich aber gegenwärtig nicht in eine politische übersetzt. Insbesondere weil der SPD Stimmen durch die Linkspartei fehlen - eine Partei, die bedauerlicherweise nicht regierungswillig und -fähig ist. Und dann sind da die Piraten, an deren Einzug in die Parlamente auch manche Leute ein Interesse haben, denen es aber vor allem darum geht, einen Wechsel zu verhindern.

Die konservative Presse schreibt die Piraten hoch, um Rot-Grün zu verhindern? Klingt nach Verschwörungstheorie.

Ich will niemandem etwas unterstellen. Klar ist jedenfalls: Einen Regierungswechsel wird es 2013 nur mit starken Grünen geben.

Wie müssen sich die Grünen in dieser Situation positionieren?

Wir werden den WählerInnen erklären: Wer einen Politikwechsel will - mehr soziale Gerechtigkeit mit Bildungschancen für alle im Land, mehr Klimaschutz, ein starkes Europa -, bekommt den nur von einer rot-grünen Regierung. Hinzu kommt: Deutschland braucht endlich wieder eine Truppe an der Spitze, die ihr Handwerk versteht. Um diese Zuspitzung wird es 2013 gehen.

Welche Milieus müssen die Grünen erschließen?

In Baden-Württemberg ist die SPD für viele im Wortsinn ein rotes Tuch. Doch Grüne zu wählen, können sie sich inzwischen vorstellen, zum Beispiel ein Handwerker aus einer tiefschwarzen Familie, der aber die Vorteile von Wärmedämmung sieht.

Die Grünen als Mittelstandspartei? Da grinst nicht nur der CDU-Wirtschaftsflügel.

Klar, bei diesen Reizworten kriege ich auch Pickel im Gesicht. Aber worüber reden wir denn? Über die Mehrheit der Gesellschaft.

Warum sollten die Grünen beim Mittelstand punkten?

Die kommen aktiv auf uns zu. Der grüne Boom findet dort doch längst statt. Kleinunternehmer verdienen ihr Geld in grünen Branchen, sie bauen ihre Produktion ökologisch um. Mit unserem Programm geben wir stärkere Anreize, indem wir etwa Forschung im Mittelstand fördern und nicht wie die FDP nur die DAX-notierten Großunternehmen im Blick haben.

Sie wollen den Spitzensteuersatz erhöhen und eine Vermögensabgabe. Wie finden das Unternehmer, die Sie treffen?

Die sind längst weiter als die schwarz-gelbe Koalition, die vorgibt, ihre Interessen zu vertreten. Auch Firmenchefs sehen ein, dass der Staat Geld braucht, um ins Bildungssystem zu investieren. Weil sie wissen, wie schwer es ist, gute Azubis zu finden. Ebenso ist klar, dass ein Mindestlohn nicht Firmen aus Deutschland vertreiben soll, sondern der Gesellschaft nutzt. Weil wir es uns nicht leisten können, dass ganze Teile abgehängt werden.

Wie glaubwürdig ist die Linkskorrektur der Grünen?

Wir hatten noch zu rot-grünen Zeiten die Evaluierung der damals getroffenen Beschlüsse angemahnt. In den vergangenen Jahren hat es eine massive Umverteilung von unten nach oben gegeben. Niedrigverdiener befinden sich in einer katastrophalen Situation, und Hartz-IV-Bezieher werden auf Dauer abgehängt. Wir steuern auf amerikanische Verhältnisse zu.

Wofür Sie verantwortlich sind. Rot-Grün hat ab 1998 die Steuern für Gutverdiener massiv gesenkt.

Ohne Zweifel waren unsere Beschlüsse zur Finanzpolitik beim letzten Parteitag in Kiel auch Lehren aus der Vergangenheit. Sie können sicher sein: Solche Fehler macht man nur einmal. Aber vergessen Sie nicht, dass Rot-Grün damals die Steuerbelastung für Geringverdiener deutlich gesenkt oder diese gar befreit hat, dass Rot-Grün massiv in Ganztagsschulen investiert hat. Die heutigen prekären Verhältnisse haben eher mit der Verweigerung von Mindestlöhnen durch die jetzige Regierung oder deren Steuergeschenken für Spitzenverdiener zu tun, während gleichzeitig die Krankenkassenbeiträge steigen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.