CannesCannes: Mit dem Daumen unterm Gummizug
■ Die Erfindung schauriger Gesten – Gary Oldmans Film „Nil by Mouth“
„Ich vögel' am liebsten Obdachlose“, sagt der Unterhalter. „Die kommen immer mit zu dir, und später kannst du sie leicht rausschmeißen.“ Johlendes Gelächter, Applaus. Die Atmosphäre in der Londoner Kneipe ist ausgesprochen familiär. Männer, Frauen, Kinder sitzen vor ihren Getränken und amüsieren sich.
Vor dem Humor graust es einem erst, aber ein Blick in die fahlen Gesichter dieser Menschen, und man ist froh, daß sie wenigstens hier was zu lachen haben. Sie amüsieren sich, so gut sie können. Billy, Ray und ein Freund müssen über Geschäfte sprechen, und deshalb sitzen sie an einem Tisch, die weiblichen Familienmitglieder an einem andern. Es geht um einen Drogendeal. Später gehen die drei Männer los, um noch einen draufzumachen. Die Kamera folgt ihnen, immer auf Augenhöhe.
Der Blick reicht kaum einmal über die Straße. Es ist Nacht, die Lichter der Leuchtreklame und der Autos flackern. Straßengeräusche, schließlich eine Spielhalle. Der Ton ist wie in einem Dokumentarfilm, laut und dumpf, nicht nachsynchronisiert. Die drei sind kaum zu verstehen. Nur das ständige „fucking“, praktisch jedes zweite Wort, kann man gut hören. Dann geht es weiter in eine Oben-ohne-Bar. Da man nicht mehr auf die Worte hört, kann man die drei in Ruhe betrachten.
Als würde man durch eine Fensterscheibe in die Bar sehen. Sie amüsieren sich königlich. Ihre Gesichter sind verschwitzt und die Münder vor Lachen weit aufgerissen. Einmal geht Ray aufs Klo und kokst. Er schnieft laut, betrachtet sich im Spiegel und zieht seine Hosen mehrmals am Gürtel hoch.
So eine Szene gab es lange nicht mehr im Kino, trotz Mike Leigh und Ken Loach. Hysterische Männer, sentimentale Frauen – Szenen aus dem Leben einer Proletarierfamilie sind im britischen Film nichts Neues, aber hier sieht es manchmal so aus, als hätte Gary Oldman mit seinem Wettbewerbsfilm „Nil by Mouth“ dieses Genre noch einmal erfunden. Als würde man das erste Mal sehen, wie sich jemand einen Schuß setzt oder seine Frau verprügelt. Ray trampelt mit den Füßen auf ihr herum, dann rennt er in den Flur und steht schnaufend und zitternd da.
Hektisch fährt er mit den Daumen unter dem Gummizug seiner Shorts entlang, wieder und wieder.
Es ist eine Geste, die ich noch nie gesehen habe, aber die besoffene Wut, die sich darin ausdrückt, ist viel eindrucksvoller als das Prügeln. Die schwangere Val verliert ihr Baby, und während sie heulend die Treppe herunterrutscht, macht ihr Körper auf jedem Absatz ein lautes „Bum“.
Es gibt an diesem Tag noch mehr solcher Szenen. Die Gesichter der Kinder in Ademir Kenovićs Film über Sarajevo – „Der perfekte Kreis“. Oder der kleine Russe, der in Manuel Poiriers Film „Western“ bei einer Hochzeitsgesellschaft den Frauen eine Szene macht: „Was wißt ihr von tiefen Gefühlen? Euch interesiert doch nur, ob einer gut aussieht.“ Eigentlich ein netter, belangloser Film, aber diese Szene ist so unerwartet aufrichtig peinlich, daß man für zwei Minuten den Zuschauerraum verläßt und mit am Tisch sitzt.
Anja Seeliger
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