CDU-Parteitag in Berlin: Sinnsuche und Populismus
Parteichef Merz kommt am Wochenende mit einer Definition um die Ecke. Doch ein anderer CDUler sorgt mit seiner Einlassung für noch mehr Wirbel.
Die CDU ist auf Sinnsuche. Sie praktiziert diesen Prozess seit der verlorenen Bundestagswahl im Herbst 2021 öffentlich. Derzeit nehmen etliche Parteimitglieder konsterniert zur Kenntnis, dass die CDU von der aktuellen Regierungskrise nicht profitiert. Bei Umfragen liegt die Union mit etwa 29 Prozent zwar auf dem ersten Platz, doch die Prognosen haben sich für sie seit fast einem Jahr kaum verändert. Mit einem neuen Grundsatzprogramm will sich die CDU neu positionieren. Doch dieser Prozess geht manchen in der Partei angesichts der anstehenden Landtags- und Europawahlen nicht mehr schnell genug – auch angesichts des derzeit prognostizierten Höhenflugs der AfD.
In der CDU-Parteizentrale ist es am Freitag warm und stickig, doch die Delegierten stehen auf, um für mehrere Minuten rhythmisch im Takt zu klatschen. Sie applaudieren Friedrich Merz, der sich in seiner 40-minütigen Rede beim Bundesausschuss der Partei an der Regierungspolitik abarbeitet. Merz nimmt dabei Anleihen an seinem Altvorgänger, der am 12. Juli 1973 in der Opposition erstmals zum Parteivorsitzenden der CDU gewählt wurde.
„Helmut Kohl sagte damals in Bonn, wir dürfen dabei nicht nur auf die Fehler dieser Regierung setzen. Wir selbst müssen durch unsere Politik diese Wende in der deutschen Politik herbeiführen.“ Merz kommt auf die Bedeutung von Kohl für die CDU mehrfach zu sprechen, geht in seiner Rede selbst bis zu Konrad Adenauer zurück. Einen Namen lässt er in seiner Betrachtung der CDU dabei außen vor und erwähnt ihn nur ganz am Ende, fast nachgeschoben in einem Nebensatz: Angela Merkel.
Wüst mahnt zum Bekenntnis zur Mitte
Viele sehen im Konrad-Adenauer-Haus heute in der 16-jährigen Amtszeit von Merkel den Grund für die mühevollen Arbeiten am neuen Parteiprogramm. Inhaltlich sei die Union nach ihrer Zeit in der Regierung ausgehöhlt gewesen, heißt es. Parteimitglieder berichten darüber, wie sie im Wahlkampf 2021 an den Ständen nicht erklären konnten, warum Menschen für die CDU stimmen sollten. „Wir haben die Bundestagswahl verloren, weil wir nicht gut genug waren“, sagt der stellvertretende CDU-Vorsitzende, Carsten Linnemann, am Samstag in Berlin.
Linnemann leitet die sogenannte Grundsatzkommission der CDU, die das neue Parteiprogramm auf den Weg bringen soll. Den Bundesausschuss am Freitag und den Grundsatzkonvent am Samstag sieht er als inhaltliche Höhepunkte auf dem Weg zum neuen Programm. Der Bundesausschuss ist ein kleiner Parteitag, klein auch durchaus im Wortsinne: Die 158 Delegierten drängen sich am Freitag in der Lobby der Berliner Parteizentrale, die eng bestuhlt wurde.
Zwischen den Sitzreihen sorgt an diesem Tag ein Beitrag von Hendrik Wüst für Gesprächsstoff. Der CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen erläuterte in einem Gastbeitrag in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) seine Vorstellungen zum neuen Parteiprogramm. Wüst beschreibt dort die Krise konservativer Parteien in Europa angesichts des rechten Populismus. „Seit 30 Jahren sagen nicht wenige deutsche Politikwissenschaftler voraus, dass die CDU das gleiche Ende nehmen würde wie die meisten ihrer großen christdemokratischen Schwesterparteien. Doch wir sind die Ausnahme“, so Wüst. Der Grund hierfür liege darin, dass Kohl und Merkel die Union in der gesellschaftlichen Mitte verortet hätten, schreibt der Ministerpräsident. „Eine Politik von Modernität, Mitte und Ausgleich lieferte über Jahrzehnte hinweg die Regierungs- und Mehrheitsfähigkeit der CDU. Das sollte auch den Programmprozess der CDU leiten.“
Die Bild-Zeitung hebt den Gastbeitrag von Wüst pünktlich zum Start des Bundesausschusses am Freitag zur „Kampfansage“ von Wüst gegen Merz. Genau dies ist die Auseinandersetzung, die die Union so lange wie möglich aufschieben möchte. Wenn es nach der Partei ginge, soll erst dann über das Personal gesprochen werden, wenn das neue Programm final verabschiedet ist, und das ist erst im Frühsommer 2024 geplant.
Weder Merz noch Wüst lassen in ihren Reden am Freitag persönlichen Zwist erahnen. Merz erwähnt Wüsts Beitrag mit der gönnerhaften Art eines Parteivorsitzenden: „Ich freue mich über die Veröffentlichung von Namensbeiträgen, und wenn ich sie lese, kann ich keine Widersprüche entdecken. Ich hätte nur eine Bitte: Wenn dann noch auf andere verwiesen würde, die ähnlich gute Beiträge geschrieben haben, dann bringt uns das alle voran. Die Erneuerung der CDU ist ein anstrengender, aber auch ein lohnender Prozess.“ Der Saal applaudiert.
Wüst spricht nach Merz, seine Rede geht nur wenige Minuten. Der NRW-Ministerpräsident wirkt angespannt und seine Ansprache bleibt inhaltlich trocken, auch rhetorisch fällt er hinter Merz zurück. Auch er kritisiert die Bundesregierung, äußert aber den schon fast freundlichen Vorwurf, die Ampelkoalition schaffe es nicht, angesichts des Ukrainekriegs und des Klimawandels „Zuversicht zu verbreiten“. „In solchen Zeiten bräuchte es eine Bundesregierung des Ausgleichs, mit klarem Plan“, sagt Wüst. Er greift auch einige Punkte auf, die er auch in seinem Gastbeitrag angesprochen hat; zwar mit weniger Spitzen gegen einen etwaigen Populismus in den eigenen Reihen, aber inhaltlich durchaus mit Unterschieden zu Merz. Etwa mit diesem Satz zur Migration: „Die Menschen, die bedroht sind, finden bei uns Zuflucht. Punkt.“
Fragen um Flucht und Migration sind ein Großthema für die Union, und sie ringt auch bei der Arbeit an ihrem Programm mit der Positionierung und der Wortwahl. Merz sagt bei seiner Rede am Freitag, Deutschland brauche Einwanderung. „Deutschland ist ein Einwanderungsland seit Jahren und Jahrzehnten.“ Dann schiebt er aber hinterher: „Es ist zu viel für unsere Städte und Gemeinden.“
Volker Kauder kann zu dem Beitrag von Wüst in der FAZ nur den Kopf schütteln. „Solche Sachen sollten unterbleiben“, sagt der ehemalige Fraktionsvorsitzende am Rande des Bundesausschusses. „Angela Merkel und ich waren sieben Jahre in der Opposition, deshalb weiß ich, wie schwer es in dieser Zeit ist, mit Positionen durchzudringen.“ Debatten um das Personal zum jetzigen Zeitpunkt würden die inhaltliche Auseinandersetzung nur erschweren.
Die Tagesordnung wird am Freitag beim Bundesausschuss abgehakt: Zur Abstimmung stehen zwei Leitanträge des Bundesvorstands, einer zu einem „Kinderchancenprogramm“, ein anderer zum Thema „Freiheit“. Beide Anträge sind allgemein gehalten und werden einstimmig verabschiedet. Der Ausschuss beschließt damit etwa, dass sich die Union zu der schwammigen Formulierung „Freiheit zum verantwortlichen Handeln in der Gemeinschaft“ bekenne. Anlass für diesen Antrag sieht die Union beim Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953, dessen Erbe die Partei fortan hochhalten möchte. In der Debatte fehlen die CDU-Ministerpräsidenten von Sachsen-Anhalt und Sachsen, Reiner Haseloff und Michael Kretschmer, prominent – sie haben es wegen Gedenkfeiern zum 17. Juni in ihren eigenen Bundesländern nicht nach Berlin geschafft.
Das strategische Dilemma der Union
Seine scharfen Worte richtet Wolf Biermann auch im Kontext des 17. Juni an Friedrich Merz. Norbert Lammert, CDU-Politiker, ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages und heutiger Leiter der Konrad-Adenauer-Stiftung, hat den Liedermacher am Freitagabend eingeladen, die Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag des Volksaufstands zu bespielen. „Mich fragen die Leute, warum gehst du denn zur Adenauer-Stiftung“, sagt Biermann in den Saal. Gekommen sei er nur wegen Lammert, mit dem ihn eine Freundschaft verbinde. Dem CDU-Vorstand im Saal bleibt nichts anderes übrig, als zu lachen und dem DDR-Dissidenten, der auch hier seine Rolle auszufüllen weiß, zu applaudieren.
Der Umgang mit dem 17. Juni im Speziellen und die politische Verortung der CDU im Allgemeinen wollen Carsten Linnemann und Friedrich Merz nicht als reine Abgrenzung zu den anderen Parteien verstanden wissen. Sie fordern immer wieder ein Programm als eigenständigen Entwurf der CDU aus ihrem Inneren heraus. Dabei ist es der Chef der Jungen Union, der das strategische Dilemma der Partei am Freitag erneut hervorhebt: „Keiner braucht eine Union, die grüner ist als die Grünen, und niemand wählt eine Union, die populistischer ist als die AfD“, sagt Johannes Winkel.
Es sind diese Auseinandersetzungen, die den Grundsatzkonvent der Partei am Samstag prägen. Merz begibt sich auch hier in ein Streitgespräch, in dem er die Nerven bewahren muss. Ralf Fücks, Grünen-Politiker und ehemaliger Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung, hält dem CDU-Vorsitzenden auf offener Bühne vor, die Union müsse als „eine bürgerliche Partei auch einen bürgerlichen Stil pflegen“. Merz entgegnet mit seiner Definition von Populismus: „Dem Volk aufs Maul zu schauen ist Demokratie, dem Volk nach dem Mund zu reden ist Populismus.“
Nur wenige Minuten vor Merz und Fücks hatte Ex-Eisschnellläuferin Claudia Pechstein in Polizeiuniform über eine konsequentere Abschiebung von Geflüchteten, ihre Vorstellungen von Familie („Mama und Papa“), das Z-Wort und das Gendern schwadroniert. Ihre Ausführungen verhallten unter zurückhaltendem Klatschen der Konvent-Teilnehmer*innen. Wie später bekannt wurde, hat die Bundespolizei eine dienstrechtliche Prüfung eingeleitet, da sie in Uniform auftrat. Merz mag eine Definition für Populismus geliefert haben. Eine Strategie, wie die CDU mit dem Thema umgehen will, blieb er schuldig. Dabei war das Anwendungsbeispiel gar nicht fern – es wird nicht das letzte gewesen sein.
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