Bundesverfassungsurteil zur Wahlreform: Opposition scheitert mit Antrag
Die Große Koalition beschloss ein Wahlrecht, das den Bundestag leicht verkleinern soll. Die Opposition wollte das verhindern. Karlsruhe lehnte ab.
In Deutschland gilt das Verhältniswahlrecht. Die Parteien bekommen also anteilig so viele Stimmen im Bundestag, wie es ihrem Anteil an den Wahlstimmen entspricht. Da aber die Hälfte der Sitze an die Kandidat:innen geht, die im Wahlkreis am meisten Stimmen erhielten, kann es sein, dass eine Partei mehr Direktmandate bekommt, als ihr nach den Parteistimmen (Zweitstimmen) zusteht.
Die Zahl dieser Überhangmandate steigt sogar mit der zunehmenden Parteizersplitterung. Denn bei drei oder vier aussichtsreichen Kandidat:innen im Wahlkreis ist oft schon mit 25 Prozent Erststimmen-Anteil ein Direktmandat zu holen.
Diese Überhangmandate wurden seit 2012 vollständig ausgeglichen, um das Wahlergebnis nicht zu verzerren. Bei der Wahl 2017 gab es deshalb neben 46 Überhangmandaten (die fast alle an die CDU/CSU gingen) auch 65 Ausgleichsmandate für die anderen Parteien. Der Bundestag wuchs so von den eigentlich vorgesehenen 598 Sitzen auf 709 Sitze an.
Reform gilt als halbherzig
Damit der Bundestag wieder kleiner wird, sollte das Wahlrecht reformiert werden. Doch die Fraktionen taten sich schwer mit der Reform. Es wurde jede Änderung blockiert, bei der eine Partei Nachteile für sich befürchtete.
Die Änderung, die im Oktober 2020 schließlich mit den Stimmen der Großen Koalition beschlossen wurde, gilt weitgehend als halbherzig. Bei Anwendung des neuen Wahlrechts auf das Wahlergebnis von 2017 hätte der Bundestag nur 22 Sitze weniger gehabt, also 687 Sitze statt 709 Sitzen. Bei der kommenden Wahl 2021 könnte der Bundestag im Extremfall trotz der leichten Verkleinerung sogar auf bis zu tausend Abgeordnete anwachsen, warnte jüngst der Wahlrechtsexperte Robert Vehrkamp.
Konkret hatte die Große Koalition beschlossen, dass die Zahl der Wahlkreise zunächst bei 299 bleiben soll und erst für die nächste Wahl auf 280 reduziert wird. Schon bei der kommenden Wahl sollen Überhangmandate teilweise mit Listenplätzen aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Außerdem sollen drei Überhangmandate ohne Ausgleich bleiben.
Dagegen erhoben 216 Abgeordnete von FDP, Linken und Grünen gemeinsam eine abstrakte Normenkontrolle. Sie monierten vor allem, das Wahlrecht sei zu unbestimmt. So sei nicht klar, ob die drei Überhangmandate je Landesliste nicht ausgeglichen werden oder bundesweit pro Partei oder im gesamten Wahlgebiet für alle Parteien insgesamt.
Die Fraktionen stellten zudem einen Antrag auf eine einstweilige Anordnung. Das neue Wahlrecht sollte bei der Wahl am 26. September nicht angewandt werden. Stattdessen sollte noch einmal mit dem alten Wahlrecht gewählt werden, das eigentlich schon außer Kraft getreten ist. Der Bundestag wäre dann noch ein klein bisschen größer geworden.
Gericht will sich noch mit Wahlrecht beschäftigen
Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts lehnte den Eilantrag nun aber ab. Bei der kommenden Bundestagswahl wird also mit dem neuen Wahlrecht gewählt. Dabei stellten die Richter fest, dass das neue Wahlrecht nicht so unbestimmt ist wie von den Abgeordneten behauptet. Es liege nahe, dass sich die drei unausgeglichenen Überhangmandate auf die gesamte Wahl beziehen und nicht auf einzelne Landeslisten oder Parteien.
Dadurch werde vermutlich auch die Chancengleichheit der Parteien nicht unzulässig eingeschränkt, so die Richter:innen. Denn das Verfassungsgericht hatte in früheren Entscheidungen bereits bis zu 15 unausgeglichene Überhangmandate als vertretbar erklärt.
Als neues Problem warfen die Richter:innen die Frage auf, ob das Wahlrecht inzwischen so kompliziert ist, dass es schon deshalb verfassungswidrig sein könnte. Doch all das soll endgültig erst nach der Wahl im Hauptsacheverfahren entschieden werden. Die Oppositionsklage sei weder offensichtlich unzulässig noch offensichtlich unbegründet.
In einer Folgenabwägung kamen die Richter nun zum Schluss, dass die Gründe für eine vorläufige Rückkehr zum alten Wahlrecht nicht überwiegen. Die Legitimationsprobleme seien genau so groß, wenn jetzt mit einem Wahlrecht gewählt wird, das später als verfassungswidrig beanstandet wird, wie wenn jetzt ein demokratisch beschlossenes Wahlrecht nicht angewandt wird, das sich später als verfassungskonform erweist.
Dass sich das Verfassungsgericht noch gründlich mit dem Wahlrecht befassen will, ist allerdings kein gutes Zeichen. Meist sind die Anforderungen an das Wahlrecht nach Karlsruher Urteilen noch komplexer als zuvor. Az.: 2 BvF 1/21
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