Bundestagsdebatte zu Antisemitismus: Irgendwie immer das Opfer
Eine Bundestagsdebatte über das Attentat in Halle gerät zur Abrechnung mit der AfD. Die setzt auf widerwärtige Vorwärtsverteidigung.
Gauland starrt im Plenarsaal in der ersten Reihe der AfD-Fraktion vor sich hin. Mit keinem Wort wird er sich an diesem Donnerstagvormittag entschuldigen. Stattdessen wird er seine Partei in einem widerwärtigen Umkehrschluss als Opfer darstellen, wieder einmal.
Doch von vorn: Der Bundestag gedachte der Opfer des Anschlags in Halle. Ein Rechtsextremer hatte in der vergangenen Woche eine Passantin und einen Mann in einem Döner-Imbiss erschossen. Außerdem hatte er versucht, sich Zutritt zu einer voll besetzten Synagoge zu verschaffen – ohne Erfolg. Wenn es die Tür nicht gegeben hätte, betont Seehofer, „hätten wir ein Blutbad erlebt“. Der Vormittag im Parlament wird zu einem Schulterschluss der Demokraten gegen die Rechtspopulisten.
Vielleicht habe der Täter allein gehandelt, sagt SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich. „Aber er wird getragen von einem System der Hetze, des Chauvinismus und des Rechtsextremismus. Und die AfD ist Teil dieses Systems.“ Mitten in ihren Reihen säßen Abgeordnete, die „widerliche Kommentare“ über die Opfer verbreitet hätten. Auch Grünen-Fraktionschef Anton Hofreiter kritisiert, dass sich die AfD nicht von Äußerungen ihres Abgeordneten Stephan Brandner distanziert. „Das zeigt das wahre Gesicht der AfD, und das zeigt, dass Sie eben keine demokratische Partei sind.“ Und FDP-Fraktionschef Christian Lindner sagt, ebenfalls an Gauland gerichtet: „Hier gilt: Wer schweigt, stimmt zu.“
Höhnische Zwischenrufe aus der AfD
Brandner hatte nach dem Anschlag auf Twitter einen Post eines Nutzers geteilt, der Solidarität mit Juden verhöhnte. Jener hatte geschrieben, dass die Opfer von Halle eine „Deutsche“ und ein „Bio-Deutscher“ gewesen seien: „Warum lungern Politiker mit Kerzen in Moscheen und Synagogen rum?“ Außerdem hatte Brandner den Publizisten und ehemaligen Vizepräsidenten des Zentralrats der Juden in Deutschland, Michel Friedman, als „deutschen Michel“ verunglimpft. Brandner ist der Vorsitzende des Rechtsausschusses im Bundestag.
In der AfD-Fraktion: verschränkte Arme, böse Mienen, höhnische Zwischenrufe. Gauland setzt, als er vorne steht, zu einer bemerkenswerten Vorwärtsverteidigung an. Er verweist auf den Anschlag vom Berliner Breitscheidplatz und auf den Mord an Susanna F. 2018, für den ein Asylbewerber verurteilt wurde. Für die „allgemeine Radikalisierung“, sagt Gauland, seien jene zuständig, die ab 2015 Flüchtlinge ins Land gelassen hätten. Seine Partei sei in den vergangenen Tagen mit „beispielloser Hetze“ überzogen worden.
Kein Wort verliert er über rechtsextreme Gewalt in Deutschland, kein Wort über rechten Terror. Auch eine Distanzierung von Brandners antisemitischen Tweets lehnt er ab. „So lange ein Mitglied der Bundesregierung sagen kann, die AfD sei der politische Arm des Rechtsterrorismus, entschuldige ich mich hier für nichts.“ Brandner immerhin wird sich entschuldigen, über drei Stunden später, in einer persönlichen Erklärung.
Gauland, 78 Jahre alt, klingt jedenfalls wie ein trotziges Kind. Und man wollte fast lachen, wenn es nicht so fürchterlich wäre. Flüchtlinge sind also schuld, wenn ein deutscher Rechtsextremist beschließt, ein Massaker an Juden anzurichten? Gauland nutzt hier eine ähnliche Argumentationsfigur wie Springer-Chef Mathias Döpfner. Der hatte kürzlich das Attentat zum Anlass genommen, um in einem Leitartikel über die „rechtsstaatlich sehr zweifelhafte Flüchtlingspolitik“ und „kriminelle Einwanderer“ zu klagen.
Schäuble findet würdige Worte
Doch die Debatte arbeitet sich zum Glück nicht nur an der AfD ab. Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) bittet die Abgeordneten zu Beginn der Sitzung, sich von ihren Sitzen zu erheben, um der Opfer zu gedenken. Danach findet er würdige Worte, weist auf alltäglichen Antisemitismus hin, auf die Angst vieler Juden, ihren Glauben öffentlich zu zeigen. Jeder müsse einen Beitrag leisten, „dass jeder in diesem Land, egal welcher Religion, welcher Herkunft oder welchen Geschlechts, die grundlegende Sicherheit erfährt, frei und selbstbestimmt zu leben“.
Seehofer kündigte Maßnahmen gegen rechtsextreme Gewalt an. Das Bundeskriminalamt und der Verfassungsschutz bräuchten mehr Mittel und Personal, um Rechtsextremismus zu bekämpfen. Er will zusammen mit Justizministerin Christine Lambrecht (SPD) die Anbieter von Internetplattformen verpflichten, strafrechtliche relevante Inhalte zu melden. Und jüdische Einrichtungen müssten durch Polizei und bauliche Vorrichtungen besser geschützt werden.
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