Bundesregierung gegen Übergewicht: Das Elend der Physis
Die Bundesregierung will den übergewichtigen Deutschen zu Leibe rücken, ohne der Ernährungsindustrie Vorschriften zu machen. Helfen wird der Plan deshalb nicht.
Eine sechste Klasse im Berliner Umland beim Sportunterricht, Disziplin Dauerlauf: Runde um Runde drehen sie auf der Aschenbahn eines Fußballplatzes. Ganz vorn ist ein kleiner, drahtiger Junge - vermutlich ein Vereinsfußballer -, der schon nach wenigen Minuten die ersten KlassenkameradInnen umrundet hat. Dahinter ein paar schlanke Jungs und Mädchen (eine darunter augenscheinlich zu dünn), die im normalen Joggingtempo mithalten und das Ziel erreichen werden. Es folgt eine große Gruppe, die Mühe hat, im Dauerlauftempo zu bleiben, und immer wieder gehen muss, um auszuruhen. Ganz am Ende einige übergewichtige SchülerInnen, die schon kurz nach dem Start nur noch im Schritttempo vorankommen.
Die Szene, zufällig beobachtet, illustriert eindrucksvoll Not und Elend der Physis in diesem Land: Viele Deutsche sind zu dick und bewegen sich zu wenig; manche leiden unter Essstörungen wie Magersucht. In Deutschland gelten zwei Drittel der Männer und rund die Hälfte der Frauen als zu dick; unter Kindern und Jugendlichen sind 15 Prozent übergewichtig oder fettleibig. Tendenz steigend. Die volkswirtschaftlichen Kosten der Fehlernährung und -bewegung sind enorm: Die Behandlung der dadurch verursachten Krankheiten kostet nach Angaben von Verbraucherschutzminister Horst Seehofer (CSU) rund 70 Milliarden Euro im Jahr.
Die Bundesregierung will dem Problem nun mit einem nationalen Aktionsplan für Ernährung "In Form" zu Leibe rücken. In den kommenden drei Jahren sollen 30 Millionen Euro ausgegeben werden, um die Bevölkerung zu einer gesunden Lebensweise zu ermuntern - ein Tropfen auf dem heißen Stein. Konkrete Maßnahmen, die etwa auch der an der Fehlernährung verdienenden Wirtschaft wehtun könnten, fehlen aber; stattdessen bleibt es bei wirkungslosen Appellen an Länder, Kommunen und Unternehmen.
Dabei ist ernährungswissenschaftlich alles im Grunde gar nicht so schwer: Wer mehr Kalorien aufnimmt, als er oder sie verbraucht, nimmt zu. Dabei ist unerheblich, ob die Kalorien biologisch oder konventionell hergestellt wurden. Auch Bio-Schokolade, Bio-Fertigpizza und Bio-Sahne sind, übermäßig genossen, genauso ungesund wie entsprechende Industrieprodukte. Wer einmal überflüssiges Gewicht aufgenommen hat, hat es mit dem Abnehmen schwer, weil der Körper bestrebt ist, das erreichte Gewicht zu halten.
Deshalb ist es wichtig, Kinder und Jugendliche zu einer gesunden Ernährung zu ermuntern. Anders gesagt: Kinder mit Fett und Zucker vollzustopfen, ohne für ausreichende Bewegung zu sorgen, grenzt an Körperverletzung. Da die allermeisten Menschen ihre Kinder und Enkel nicht bewusst schädigen wollen, tut Aufklärung not. Zunächst muss ein Problembewusstsein geschaffen werden, nicht nur in der bildungsbürgerlichen Schicht. Dafür mag der Aktionsplan der Bundesregierung hilfreich sein.
Allerdings nützt die beste Aufklärung nichts, wenn im Alltag viele Unklarheiten bleiben. Wie viele Kalorien stecken in einer Nutella-Schrippe, einem Sahnequark, einem Fertigkuchen? Selbst für bewusste Verbraucher sind solche Informationen nur schwer zu finden, zumal solche Angaben neben aufgedruckten Werbebotschaften oft irreführend sind. Einfacher wäre ein klare Ampelkennzeichnung von Lebensmitteln: Rot für selten genießen, Gelb für bewusst genießen, Grün für bedenkenlos genießen. Zudem müsste Werbung für Dickmacher, die gezielt Kinder und Eltern anspricht, untersagt sein. Auf beide einfache Maßnahmen verzichtet die Bundesregierung, weil diese den Profit der Ernährungsindustrie schmälern könnten - die Folgekosten trägt ja die Allgemeinheit.
Auch Kindergärten und Schulen könnten einen wichtigen Beitrag zur gesunden Lebensweise leisten. Das erste Problem ist, dass es viel zu wenige Kita-Plätze gibt; deshalb können gar nicht alle Kinder erreicht werden. Das zweite Problem ist, dass fast überall zu wenige ErzieherInnen da sind, die die Kinder intensiv aufklären und zu Bewegung animieren könnten. Schlimmer noch sieht es an den Schulen aus: Hier findet man häufig weder eine Pausenmilch noch ein gesundes Mittagessen, was die Gier nach Pommes und Schokolade hemmen könnte. Zudem gibt es zu wenig Sportunterricht, so er überhaupt stattfindet. Problem: Selbst wenn die Bundesregierung wollte, könnte sie nicht eingreifen - sie hat alle Kompetenzen in der Bildungspolitik an die Länder abgegeben. Fazit: Dem Aktionsplan "In Form" werden noch viele weitere Pläne folgen. Pläne, die hoffentlich mehr Wirkung erzielen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Rückzug von Marco Wanderwitz
Die Bedrohten
Repression gegen die linke Szene
Angst als politisches Kalkül