Bundespräsidenten-Wahl: Wunsch nach einem Ersatzmonarchen
Am Mittwoch wird entschieden: Der Pfarrer aus Rostock oder der Junge aus Osnabrück. Historisches Schwergewicht oder präsidialer Konsensredner. Gauck oder Wulff?
Es ist eine Kandidatur, die aus einer Rede entstand. Am 5. Mai sprach Joachim Gauck im Berliner Hauptgebäude des Axel Springer Verlags, an einem Mittwoch um halb sechs. Der Konzern verlieh Preise an Nachwuchsjournalisten, der frühere Beauftragte für die Stasi-Unterlagen hielt die Festansprache. Niemand konnte zu diesem Zeitpunkt ahnen, dass knapp vier Wochen später der Bundespräsident zurücktreten würde. Aber jeder der Anwesenden wusste: Es war eine hinreißende Rede, die Gauck hier hielt.
Anders als bei vielen seiner Bewerbungsauftritte in diesen Tagen sprach Gauck nicht über sich selbst und nur wenig über seine Erfahrungen während der DDR-Zeit. Er sprach über Unfreiheit in vermeintlich offenen Gesellschaften, über die Zwänge des Journalistenberufs und die Notwendigkeit, sich ihnen zu widersetzen. Über die Liebe zur Wahrheit und die Bereitschaft, sich vom Arbeitgeber notfalls auch feuern zu lassen.
Den Auftritt hatte Welt-Herausgeber Thomas Schmid noch in frischer Erinnerung, als Horst Köhler dann am 31. Mai zurücktrat. "Jetzt bitte keine Notlösung", schrieb er am 1. Juni in einem Leitartikel. "Wie wäre es mit Joachim Gauck?" Noch am selben Tag unterbreitete Grünen-Fraktionschef Jürgen Trittin seinem SPD-Kollegen Frank-Walter Steinmeier den Vorschlag. Am Abend sagte Gauck zu.
Allein die Vorgeschichte seiner Kandidatur scheint Gauck zum idealen Bundespräsidenten zu machen. Denn der Inhaber diese Amtes wirkt nach landläufigem Verständnis vor allem durch seine Reden. Bei der Ausfertigung von Gesetzen, der Entgegennahme von Beglaubigungsschreiben, selbst der Auflösung des Bundestags bleibt ihm wenig Spielraum. Seine öffentlichen Auftritte dagegen kann er selbst gestalten. Das glauben wenigstens diejenigen, die das Amt noch nicht innehatten.
Um, wie Gauck es verlangt, bei der Wahrheit zu bleiben: Politische Reden im eigentlichen Sinn sind dem Bundespräsidenten gar nicht gestattet. Von ihren Anfängen bis heute lebte die Redekunst in offenen Gesellschaften von Auseinandersetzung und Streit. Die klassischen Reden etwa, mit denen Cicero im Jahr 63 vor Christus seinem Widersacher Catilina entgegentrat, faszinieren durch ihre wütende und vielfach ungerechte Polemik.
Auch Bismarck, alles andere als ein Demokrat und ein begnadeter Redner, lief zu seiner besten Form in kontroversen Reichstagsdebatten auf. Die Sitzungen, in denen der Bundestag Anfang der 1970er Jahre über die Ostverträge stritt, zählen zu den Sternstunden des Parlaments. Auch der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hielt seine besseren Reden in Stunden der Bedrängnis.
Das Staatsoberhaupt dagegen darf nicht reden. Es hält, als politisches Neutrum, Ansprachen. Schon der äußere Rahmen schließt Kontroverses aus. Wenn der Präsident den Veranstaltungsraum betritt, müssen sich die Zuhörer von ihren Plätzen erheben. Seine Worte dürfen sie anschließend nicht kommentieren. Das geht selbst dann nicht, wenn sie selber auf der Rednerliste stehen. Der Präsident spricht stets als Letzter. In Diskussionsrunden unter Gleichen begibt er sich ohnehin nicht.
Das gilt auch für die eine große Ansprache, die seit einem Vierteljahrhundert den Maßstab aller Präsidentenreden abgibt und schon so manchen Nachfolger entmutigte: die Ansprache, die Richard von Weizsäcker zum 40. Jahrestag des Kriegsendes vor dem Deutschen Bundestag hielt. Es war ein einzelner schlichter Satz, der die Größe des Textes ausmachte: "Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung." Seine Stärke bezog er daraus, dass Weizsäcker ein Geschichtsbild offiziell beglaubigte, das sich im größeren Teil der Gesellschaft längst durchgesetzt hatte. Er übte also auch hier eine Rolle aus, die ihm vor allem zusteht, die Rolle eines Notars der Republik.
Weizsäcker hatte es allerdings leichter als seine Nachfolger, sich von einer damals noch stark polarisierten Alltagspolitik abzusetzen. Heute, wo längst nicht mehr die Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, sondern die Einschläferung des politischen Gegners als Ausweis höchster Staatskunst gilt, kurz: wo jeder Parteipolitiker einen kleinen Präsidenten gibt - da wird es für ein Staatsoberhaupt schwierig, sich als Kraft der Mäßigung davon noch abzusetzen. Der Ausweg, einer präsidialen Kanzlerin als Polarisierer entgegenzutreten, darf mit Köhlers Scheitern als versperrt gelten.
Es ist insofern nur konsequent, dass die Kanzlerin nun den konsensorientiertesten aller Ministerpräsidenten zum neuen Staatsoberhaupt machen will. Wer Christian Wulffs Reden der letzten Jahre liest, der mag kaum glauben, dass dieser Mann von der Chance auf einen Umzug ins Schloss Bellevue wirklich überrascht worden ist. So gern Wulff gegen seine Parteichefin stichelt: Es gibt keinen anderen CDU-Politiker, der Merkels Präsidialstil so nahekommt wie er.
"Unser Angebot zur Mitarbeit gilt allen Abgeordneten": So leitete Wulff, gut einen Monat vor Köhlers Rücktritt, seine mutmaßlich letzte Regierungserklärung im niedersächsischen Landtag ein. Als würde er im Ernst erwarten, dass SPD, Grüne und die Linkspartei plötzlich für ihn stimmten. Auch ließ er zuletzt kaum eine Gelegenheit aus, Ansprachen zu präsidialen Anlässen zu halten - zum Gedenken an Konzentrationslager oder Todesstreifen, zum Jubiläum von Grundgesetz oder Westfälischem Frieden.
Vor dem Fernseher
Kontroverses sucht man auch in diesen Texten vergeblich. Zwar ist Wulff durchaus imstande, die DDR als Unrechtsstaat zu bezeichnen. Aber nicht ohne hinzuzufügen, "dass der Begriff des Unrechtsstaates die persönliche Lebensleistung der Menschen nicht betrifft". Es sind Konsensreden und sorgsam abgewogene Referententexte, die der Ministerpräsident in seinen Amtsjahren zumeist vorgetragen hat. Ausfälle, wie sie sich der baden-württembergische Amtskollege Günther Oettinger in der Gedenkrede auf seinen Vorgänger Hans Filbinger leistete, waren bei Wulff nie zu befürchten.
Ins kollektive Gedächtnis eingegraben hat sich die Ansprache, die Wulff auf der Trauerfeier für den Torwart Robert Enke hielt. Wenn es einen Auftritt gab, der ihn für die Kandidatur qualifizierte wie bei Gauck die Rede vor den Springer-Journalisten, dann war es dieser. Es ist kein wirklich bemerkenswerter Text, wenn man ihn heute noch einmal nachliest. Es war ein Auftritt, der seine Stärke aus der Situation gewann. Das riesige Stadion, der Ministerpräsident ganz allein auf den Fußballfeld, den Sarg des toten Sportlers im Rücken.
Seine besseren Auftritte als Redner hat Wulff, wenn er sich als Person zurücknimmt. Biografische Einschübe wirken bei ihm oft unangemessen. Bei allen familiären Härten: Weltgeschichte hat der Junge aus Osnabrück am eigenen Leib nicht erlebt. Zum 20. Jahrestag des Mauerfalls berichtete er am Grenzübergang Marienborn, wie er das Geschehen einst mit Gänsehaut verfolgte. "Vor dem Fernseher", wie er ehrlicherweise hinzufügte.
Ich, wir, mir, mich, uns
Bei Gauck ist das anders, völlig anders. Jede seiner Ansprachen lebt von ihrer Verknüpfung mit der eigenen Person. Welchen seiner politischen Freunde man nach Bekanntwerden der Kandidatur auch anrief: "Eitel" war das Adjektiv, das jedem zur Charakterisierung der Person spontan herausrutschte. Freundlich gewendet, könnte man auch von Authentizität sprechen.
Bei einem Werbeauftritt am vergangenen Dienstag im Deutschen Theater Berlin benutzte Gauck insgesamt 151-mal die Wörter "ich" oder "wir", "mir", "mich" oder "uns". Er gehört heute zu den wenigen Personen des öffentlichen Lebens, für die sich die Diktaturgeschichte des 20. Jahrhunderts noch mit persönlicher Erfahrung verbindet. Helmut Kohl konnte in seinen politischen Reden eindrucksvoll aus Jugenderinnerungen ans kriegszerstörte Ludwigshafen schöpfen. Angela Merkel hat solche Anknüpfungspunkte kaum noch, sie hat auch keine persönliche Widerstandsgeschichte vorzuweisen wie der von ihr bewunderte Gauck.
Es ist natürlich albern, den Pfarrer aus Rostock dem rechten politischen Lager zuzuordnen. Sein Freiheitspathos, das Bekenntnis zu Angstfreiheit und persönlicher Autonomie sind alles andere als konservativ. In den Meinungsumfragen fliegen ihm die größten Sympathien von den Anhängern der Grünen zu, niemand steht ihm so distanziert gegenüber wie die Wähler von Union und FDP. Wenn sich Politiker aus dem Regierungslager für ihn begeistern, wenn das auch vermeintlich konservative Medien tun: Dann zeigt das entweder, wie weit sie sich diese Eliten von ihrer sicherheitsbedürftigen Basis mittlerweile entfernt haben. Oder es hat nichts mit politischen Inhalten zu tun, sondern mit dem Wunsch nach einem Ersatzmonarchen.
Denn dass die Begeisterung für Gauck einem höchst konservativen Amtsverständnis entspricht, steht ebenfalls außer Frage. Es ist die Sehnsucht nach einem weisen und gütigen älteren Herrn, der aus der Kraft seiner Lebenserfahrung schöpft und dabei über den Parteien steht. Dieser apolitische, ja antipolitische Impetus vieler Unterstützer scheint dem Kandidaten mittlerweile selbst peinlich zu sein, jedenfalls hat er sich davon schon öffentlich distanziert. Zwar verglich sich auch Wulff in einer Boulevardzeitung mit Friedrich dem Großen, der Gelehrte wie Voltaire an seinen Hof gezogen habe. Aber niemand regt sich darüber auf, zu absurd erscheint bei ihm der Gedanke an einen Ersatzmonarchen. Am Ende ist das ganz beruhigend.
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