Bundeskanzlerin über Nachhaltigkeit: Klimaneutralität über die EU regeln
Deutschland habe das Geld, die Technologien und genug Begeisterung, um nachhaltig zu werden. Sagen Experten. Aber passiert auch was?
Noch einmal 5 Minuten dauerte es, bis sich Merkel bei ihrer traditionellen Rede vor der Nachhaltigkeits-Community den heimischen Problemen bei der Vereinbarkeit unseres Lebensstils mit den begrenzten Fähigkeiten der Umwelt widmete. Eine klimaneutrale Gesellschaft sei „die größte Herausforderung“, die jetzt mit der Strukturkommission angegangen werde. Und den einzigen Zwischenruf im ansonsten braven Publikum („das geht nicht schnell genug!“) konterte sie routiniert: „Diese Ungeduld brauchen wir.“
Ansonsten sprach die Kanzlerin im Berliner Tempodrom aber lieber über – Europa. Sie breitete ihren derzeit aktuellen Plan aus, mit dem sie Frankreichs Präsident Emmanuel Macron bei der EU-Reform unterstützen will: mehr Geld für schwächelnde Länder, gemeinsame Außen- und Migrationspolitik, ein europäischer Währungsfonds, ein Marshallplan für Afrika, um „Fluchtursachen zu bekämpfen“. Das solle auch die Antwort sein, um die 17 „nachhaltigen Entwicklungsziele“ der UN (SDG) umzusetzen und den Populismus zu bekämpfen: Beseitigung von Armut und Krankheit, bessere Bildung, Schutz des Bodens, des Klimas, der Artenvielfalt. Und bei all dem müsse man „Europa im Sinne der Nachhaltigkeit denken“, so Merkel. Nur mit einer handlungsfähigen EU könne das gelingen, wo sich etwa die USA aus dieser Logik verabschiedet haben.
Für die nationale Politik blieb da nicht viel Raum. Und alle, die von der Rede Merkels starke Signale für eine andere Agrarpolitik, Bewegung in der Diesel-Frage oder Druck für die Erreichung des Klimaziels von 2020 erhofft hatten, wurden enttäuscht. Merkel bekannte sich zur „Struktur-Kommission“, die „mit einem Datum zum Ausstieg aus der Braunkohle eine neue Perspektive geben wird“. Aber an ihrer Nachhaltigkeitsbilanz wollte die Regierungschefin nicht rummäkeln lassen: „Ich widerspreche ausdrücklich der Ansicht, unser Koalitionsvertrag sei nicht auf Nachhaltigkeit ausgelegt.“
Ganz so scharf hatte es die 11-köpfige internationale Expertenkommission nicht formuliert, die seit einem Jahr die deutsche Strategie untersucht hatte. Ihr Gutachten mit dem Titel „Veränderung, Chance, Dringlichkeit“, das auf der Konferenz vorgestellt wurde, betont, Deutschland „scheint für eine ambitionierte Umsetzung der SDG gut aufgestellt zu sein“. Es gebe die Institutionen, die Technologien, das Geld und die Bereitschaft in der Bevölkerung. „Wenn Deutschland es nicht schafft, wer dann?“ heißt es in dem Bericht. „Wahrscheinlich werden diese Erwartungen noch steigen.“
„Peer Review“ Expertenkommission
Allerdings warnen die Experten unter dem Vorsitz von Helen Clark, ehemals Chefin der Regierung von Neuseeland und danach des UN-Entwicklungsprogramms, vor zu viel Begeisterung: „Eine Transformation von Konsumverhalten, Produktion, ethischen Grundsätzen und Handeln hin zu mehr Nachhaltigkeit hat noch lediglich sehr begrenzt stattgefunden. Weitere grundlegende Veränderungen sind erforderlich.“ Die beschrieb Clark dann für Deutschland auch ganz offen: besserer Schutz für Böden und Artenvielfalt, Ausstieg aus Kohle und Atom, Kampf gegen Fettleibigkeit und Ausgrenzung von Armen und Migranten. Immerhin 26 von 63 Indikatoren, die den Fortschritt bei der Nachhaltigkeit messen sollen, seien auf einem falschen Pfad.
Das hatte auch Marlehn Thieme, die Vorsitzende des Nachhaltigkeitsrats, immer wieder angemahnt: Es gebe „großen Anlass zur Sorge“, etwa beim Artenverlust. „viel zu lange ist wenig geschehen“, sagte Thieme zur Begrüßung von Merkel. Jetzt brauche es „volle Kraft voraus für die Nachhaltigkeit“. Merkel hörte es, lächelte und redete. Über Europa.
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