BürgermeisterInnenwahl in Lübeck: Ein Leben nach Saxe
Lübeck wählt am Sonntag einen neuen Bürgermeister. Nach fast 900 Jahren könnte es erstmals eine Bürgermeisterin werden. Und das auch noch ohne SPD-Parteibuch
Weihers Chancen bei der Wahl am kommenden Sonntag stehen gut, denn sie ist die Kandidatin eines ungewöhnlich bunten und breiten Bündnisses. Alle Fraktionen in der Lübecker Bürgerschaft, die nicht SPD heißen, wollen Weiher: CDU, Grüne, Bürger für Lübeck (BFL), FDP und Linke. „Ich habe nicht lange gezögert, denn ich fand die Idee einer überparteilich unterstützten Kandidatur äußerst reizvoll“, sagt sie. Die Unterstützung durch fünf Parteien eröffne die Chance, in der Bürgerschaft ihre Ideen für die zweitgrößte Stadt Schleswig-Holsteins tatsächlich umzusetzen: „Ich will eine Bürgermeisterin sein, die das Lübecker Klein-Klein hinter sich lässt und wieder für mehr Gemeinsamkeit in der Stadt sorgt.“
Gegen fünf, natürlich männliche, Bewerber müsste Weiher sich durchsetzen. Als chancenreichster gilt SPD-Fraktionschef Jan Lindenau. Der 38-jährige Bankkaufmann setzt auf den Generationswechsel im Rathaus. Er höre von vielen Bürgern, „dass sie es gut fänden, wenn endlich ein junger Mann mit frischen Ideen käme“, sagt Lindenau, der seit mehr als 15 Jahren in der Kommunalpolitik aktiv ist. Ein Plakat zeigt ihn auf dem Kopf stehend mit dem Slogan: „Manchmal muss man die Perspektive wechseln, um wirklich etwas zu erreichen.“
Die vier weiteren Kandidaten sind Thomas Misch (Freie Wähler) und die unabhängigen Kandidaten Ali Alam, Joachim Heising und Detlev Stolzenberg. Zwar werden ihnen kaum ernsthafte Chancen eingeräumt, jedoch könnten sie eine Stichwahl zwischen den beiden KandidatInnen mit den meisten Stimmen im ersten Wahlgang erzwingen. Wenn niemand am 5. November die absolute Mehrheit erringt, kommt es zwei Wochen später zur Entscheidung – wahrscheinlich zwischen Weiher und Lindenau.
Das gravierendste Beispiel für eine gescheiterte Standortpolitik ist der Lübecker Flughafen Blankensee.
2005 verkaufte die Stadt die Mehrheit am damals größten Flughafen Schleswig-Holsteins an den neuseeländischen Investor Infratil. Der stieg 2009 wieder aus. Die Stadt musste drei Jahre lang die Defizite ausgleichen, während sie einen neuen Investor suchte.
2013 übernahm der ägyptische Kaufmann Mohamad Rady Amar den Airport für einen Euro. Nach einem Jahr verschwand Amar spurlos, der Flughafen musste Insolvenz anmelden.
2014 bekam der chinesische Unternehmer Chen Yongqiang den Flughafen für ebenfalls einen Euro. Er drehte nach nur einem Jahr den Geldhahn zu. Es folgte die zweite Insolvenz.
Im Juni 2016 pachtete der Lübecker Medizinunternehmer Winfried Stöcker den Flughafen, bis 2022 kann er ihn für wenig Geld kaufen.
Von ehemals 200 Arbeitsplätzen existieren zurzeit noch etwa 50.
Weihers Chancen bei der Wahl am kommenden Sonntag, bei der 175.000 LübeckerInnen wahlberechtigt sind, stehen auch deshalb gut, weil in der Stadt eine ausgeprägte Unzufriedenheit mit Saxe und der SPD herrscht. Die Geburtsstadt von Willy Brandt ist konkursreif, die Posse um den vier Mal für lau an windige Investoren verkauften Flughafen, auf dem sich dennoch nichts bewegt, sorgte bundesweit für Spott (siehe Kasten).
Visionen für die Schöne an der Trave, deren Altstadt bereits 1987 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wurde, sind Mangelware. Der größte Hafen Schleswig-Holsteins dümpelt in der Flaute, die Arbeitslosigkeit ist eine der höchsten im Lande, das weltberühmte Holstentor steht noch immer auf einer Verkehrsinsel in einer vielbefahrenen sechsspurigen Straße.
Saxes Kritiker werfen ihm mangelnden Sparwillen und Ideenlosigkeit vor. „Schuldenkönig von Lübeck“ nennt ihn Marcel Niewöhner von den BFL. Er habe sich hinter Sachzwängen „verschanzt“, sagt Michelle Akyurt, Fraktionsvorsitzende der Grünen, die mehrfach mit Saxes SPD koaliert hatte: „In seiner Kommunikation war immer sehr viel Einbahnstraße.“ Jetzt richtet sich an Weiher die Erwartung, „das leckgeschlagene Schiff wieder flottzumachen“.
2014 hatte sich die Diakoniewissenschaftlerin, die bei mehreren Sozialverbänden als Geschäftsführerin gearbeitet hat, als Senatorin gegen Lindenau durchgesetzt – mit 24 zu 23 Stimmen, unterstützt von demselben Anti-SPD-Bündnis, das sie nun zur Stadtchefin machen will. Dieser Probelauf indes fand in der Bürgerschaft statt, BürgermeisterInnen aber werden direkt vom Volk gewählt. Repräsentative Umfragen gibt es zwar nicht, politischen Beobachtern allerdings gilt Weiher als Favoritin. Von großer Bedeutung wird sein, ob sie ihre Anhängerschaft mobilisieren kann: Bei der Wahl 2011 lag die Beteiligung lediglich bei 38,9 Prozent.
Weiher präsentiert sich deshalb in der traditionellen SPD-Hochburg hinterm Holstentor als Kämpferin gegen SPD-Filz und als überparteiliche Bürgermeisterin für alle. Und nicht zuletzt als Frau. Das kann nach 228 männlichen Vorgängern nicht schaden.
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