Bürgermeister über ÖPNV in Templin: „Traut Euch!“
Bürgermeister Detlef Tabbert hat in Templin Erfahrungen mit günstigem ÖPNV gemacht. Er empfiehlt ein etwas teureres Nachfolgemodell zum 9-Euro-Ticket.
taz: Herr Tabbert, Templin ist Vorreiter für kostengünstigen ÖPNV. Wie funktioniert dieses Ticketsystem?
Detlef Tabbert: In Templin fährt man seit über zehn Jahren für 44 Euro im Jahr, also für knapp 4 Euro im Monat. Und diese Größenordnung hat sich bewährt. Das Angebot nutzen viele Bürger. Wir haben eine übertragbare Plastikkarte, die für das ganze Jahr gilt. Man hat also wenig Aufwand und viele Vorteile.
Welche Vorteile sind das genau?
Es gibt soziale Vorteile, weil auch Ärmere dieses Angebot nutzen können. Außerdem beobachten wir verkehrssicherheitstechnische Vorteile. Es gibt auch einen Vorteil, was die Ökonomie angeht. Der Verkehrsbetrieb stellt monatlich nämlich nur eine Rechnung an die Stadt. Man spart sich dadurch eine Menge bürokratischen Aufwand.
Bürgermeister der Stadt Templin in der Uckermark, Mitglied der Linken, seit 2010 im Amt.
Also ist Ihr Konzept ein Erfolg?
Es ist ein Erfolgsmodell und wir sind stolz darauf. Alleine die lange Laufzeit zeigt das schon. Die Stadtverordneten und auch die Bürger haben dieses Konzept begleitet. Die Stadt hat jedes Jahr Geld dazugegeben. Wir sind die einzige Stadt in Europa, die seit 25 Jahren durchgehalten hat. Ich hoffe, dass wir dieses Ticketsystem auch die nächsten 25 Jahre anbieten können.
Was ist vor 25 Jahren passiert?
1997 wurde der Nahverkehr von gerade einmal 30.000 Menschen im Jahr genutzt. Deswegen stellte sich die Frage, ob man den Stadtverkehr einstellt oder ob man etwas gänzlich Neues probiert.
Das heißt, eine Krise hat letztlich zu der Veränderung geführt?
Ja, die Überlegung war, die Öffentlichen attraktiver zu machen, um die Fahrgastzahlen zu erhöhen. Wir haben zunächst ein Gratisticket angeboten.
Zunächst?
Es wurde damals viel diskutiert. Das Gratisticket bestand über 4 Jahre. Dann hat man, ähnlich wie jetzt bei dem 9-Euro Ticket, gemerkt: (Fast) Umsonst ist manchmal umsonst. Wir erlebten dann einen massiven Anstieg der Fahrgastzahlen auf bis zu eine halbe Million in unserem Stadtverkehr und davon war die Hälfte „Spaßverkehr“. Die Busse waren krachend voll, die Qualität litt. Und zum anderen war die finanzielle Belastung für die Stadt entsprechend groß.
Wie viel Geld muss die Stadt aufwenden, um einen solchen Tarif anbieten zu können?
Im Templiner Haushalt stehen im 200.000 Euro für unseren Nahverkehr zur Verfügung.
Und dann?
Daraufhin hat man nachgesteuert. Es wurde ein sozialer Tarif zum Laufen gebracht, in dem Fall ein Jahresticket für 44 Euro. Wer dieses Geld ausgibt, der will auch Busfahren und will den ÖPNV nutzen. Seit 15 Jahren haben wir kontinuierlich zwischen 190.000 und 240.000 Fahrgäste im Stadtverkehr. Andere Städte in der Größenordnung wie Templin, also zwischen 16.000 und 20.000 Einwohner, haben um die 30.000 Fahrgäste. Genau wie wir vor 25 Jahren.
Das 9-Euro Ticket wurde deutschlandweit für einen begrenzten Zeitraum zur Entlastung der Bürger eingeführt. Nun wird über eine Nachfolge diskutiert. Wie stehen Sie dazu?
Traut euch! Es ist ein langfristiger Prozess. Wir haben unseren Nahverkehr immer wieder angepasst, weiterentwickelt und ausgebaut. Wenn ich jetzt die Diskussion höre, graust es mir. Man kann ein System auch totreden. Im Endeffekt spart man durch ein einfaches Ticketsystem enorm. Man spart eine Menge Bürokratie, man kann die Zahlen klar greifen und für den Bürger ist es unkompliziert und sozial.
Was könnte Berlin von Templin lernen?
Wenn ich entscheiden könnte, würde ich mit einem vernünftigen Ticketpreis starten; etwa 199 Euro für Berlin und Brandenburg oder 365 Euro für den ÖPNV im gesamten Bundesgebiet. Wichtig ist, dass man es transparent und smart gestaltet, sodass jeder damit klarkommt.
Worin sehen Sie denn vor allem die Vorteile von günstigem Nahverkehr?
Man spart Kosten für Straßenbau, für Parkplätze und nebenbei leistet man einen riesen Beitrag zur Verkehrssicherheit. Jedes Auto, was nicht fährt, kann keinen Unfall bauen. Wenn man einen Tarif ansetzt, der überschaubar ist, dann weiß man auch, wie viel Verkehr wirklich notwendig ist. Zum 1. Januar könnte es beispielsweise ein neues Tarifsystem geben, das sich auch ärmere Menschen leisten können. Aber kein Nulltarif! Das erzeugt Zusatzverkehr, der nicht nötig ist. Das 9-Euro-Ticket im Bund ist fast die Eins-zu-eins-Blaupause für das, was in Templin Ende der 90er-Jahre passiert ist. Leider sitzen die Bedenkenträger zu sehr am Ruder.
Gibt es Zukunftspläne für den Stadtverkehr?
Wir wollen binnen zwei Jahren klimaneutral werden. Dafür bekommt unsere Busflotte einen Elektroantrieb. Außerdem soll Templin Standort für eine Wasserstofftankstelle werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Netzgebühren für Unternehmen
Habeck will Stromkosten senken