Bürgerkrieg in Diyarbakir: Die Stadt und der Tod

Ein Vater wartet darauf, die Leiche seines Sohns aus der belagerten türkischen Stadt zu bergen. Doch die Polizei gewährt keine Feuerpause.

zerschossene Häuser hinter einer Stadtmauer

Zerstörte Altstadt Sur in Diyarbakır. Foto: reuters

DIYARBAKIR taz | Es ist eine ungewöhnliche Prozession, die sich am Rande der Altstadt von Diyarbakır in Bewegung setzt. Vorneweg rollt ein Leichenwagen, in dem aber keine Leichen liegen. Dahinter geht eine Gruppe besorgt um sich schauernder Menschen, an der Spitze eine energische junge Frau. Sibel Yiğitalp ist Abgeordnete des türkischen Parlaments in Ankara. Sie stammt aus Diyarbakır und gehört der kurdisch-linken HDP an.

Langsam geht es durch das Dağkapı, das größte Tor in der historischen Stadtmauer rund um die Altstadt. Die Gruppe hinter dem Leichenwagen passiert ein Spalier von gepanzerten Fahrzeugen der Gendarmerie. Schwerbewaffnete Spezialeinheiten in schwarzer Kluft und Gesichtsmasken sichern den Zugang zur Altstadt ab. Die Atmosphäre ist eisig, feindselig. Der Gang in die Altstadt ist riskant, aber die Menschen hinter dem Leichenwagen müssen hinein. Sie wollen die Leichen von vier jugendlichen PKK-Kämpfern bergen, die seit drei Wochen im Kampfgebiet verrotten.

Hinter dem Tor beginnt die Gazi Caddesi, die Hauptstraße, die das historische Viertel Sur, in Nord-Süd-Richtung durchquert. Die Gazi Caddesi ist eine Art Demarkationslinie. Auf der linken Seite der Straße haben Polizei und Militär alle Zugänge in das Gassengewirr der Altstadt gesperrt. An manchen Gassen haben sie sich mit mehreren hintereinandergestaffelten Absperrgittern begnügt, andere Straßen haben sie mit improvisierten Mauern und dahinter postierten Panzerwagen gesperrt. Soldaten und Polizisten stehen überall. Alle Geschäfte sind mit Eisengittern verrammelt, von einigen Läden stehen nur noch rauchgeschwärzte Fassaden. Der historische Hasan Paşa Hanı mit seinem schönen Innenhof, bis vor Kurzem noch der beliebteste Treffpunkt der Stadt, ist geschlossen. Wo noch vor ein paar Monaten die Menschen in Massen flanierten, herrscht gähnende Leere.

Die Hauptmoschee von Diyarbakır, die historische Ulu Camii, ist geschlossen. Eine andere ebenfalls jahrhundertealte Moschee wurde zerstört. Durch eine Gasse sieht man die ausgebrannte Ruine. Höchstens 50 Meter hinter der Hauptstraße beginnt die Kampfzone. Auch die vor drei Jahren feierlich wiedereröffnete armenische Surp-Giragos-Kirche ist durch die Kämpfe in Mitleidenschaft gezogen worden. Ununterbrochen sind Schüsse zu hören. Maschinengewehrfeuer wechselt sich ab mit heftigen Detonationen, wenn Mörsergranaten in Häuser und schmalen Straßenschluchten einschlagen.

Reste zivilen Lebens

Schritt für Schritt bewegt sich der Zug hinter dem Leichenwagen die Hauptstraße entlang. In den Vierteln auf der rechten Seite ist noch ein Rest zivilen Lebens. Ab und zu huscht ein Mann vorbei, vielleicht auf dem Weg zu seinem Laden im Schuhbasar, um zu schauen, ob seine Waren noch sicher sind.

Obwohl hier nicht gekämpft wird, ist es gefährlich. Querschläger und fehlgeleitete Granaten haben mehrmals unbeteiligte Zivilisten getötet. Erst wenige Tage vor dem Leichenzug ist Hunderte Meter vom Kampfgebiet entfernt eine aus der Bahn geratene Mörsergranate in ein Haus eingeschlagen und hat eine Frau beim Frühstück zerfetzt.

Strom und Wasser in den umkämpften Vierteln sind abgeschaltet, die Wohnungen bei Minusgraden eiskalt. Etliche Häuser sind nur noch Ruinen

Der Zug des Leichenwagens stoppt und biegt ab in eine Seitenstraße, die in das Gefechtsgebiet hineinführt. Für diesen Moment hat Sibel Yiğitalp lange mit der Staatsmacht verhandelt. Fast zwei Wochen brauchte sie, um mit dem Gouverneur von Diyarbakır eine Vereinbarung auszuhandeln, dass an diesem Dienstag, den 12. Januar, in dieser Straße für zwei Stunden nicht geschossen wird. Am Ende der Straße, mitten im Kampfgebiet, auf dem Hof einer seit Wochen geschlossenen Schule, liegen die vier Leichen. Es sind getötete YDG-H Kämpfer, Mitglieder der Jugendorganisation der PKK.

Einer der toten Kämpfer ist Isa Oran, 21 Jahre alt. Sein Vater, Mehmet Oran, geht hinter dem Leichenwagen. Er will endlich seinen Sohn begraben.

Nach mehr als zwei Stunden kommt die Delegation zurück. Der Leichenwagen ist leer. Andere Eltern der getöteten Kämpfer warten mit Verwandten und Freunden in den Räumen der Menschenrechtsorganisation Insan Hakları Derneği (IHD) auf die Rückkehr. Schon bevor die Gruppe eintrifft, hat sich herumgesprochen, dass die Mission keinen Erfolg hatte. Als Sibel Yiğitalp den Raum betritt, wird sie von allen Seiten bedrängt.

Sie ist zornig. „Erstens hat sich das Militär entlang der Straße nicht wie versprochen zurückgezogen. Ständig wurde in unmittelbarer Umgebung geschossen.“ Dann habe der Polizeioffizier, der die Gruppe vor der Schule empfing, gefordert, dass einer allein auf den Schulhof geht und zunächst eine Waffe holt, die dort liege. Die Situation sei bedrohlich und unsicher gewesen. „Alle Mitglieder der Delegation hatten das Gefühl, zur Zielscheibe zu werden, wenn sie den Schulhof betreten“, sagt Yiğitalp. Deshalb haben sie umkehren müssen.

Ikone des Widerstands

Anfang Dezember begann die Belagerung der Altstadt. Obwohl fast täglich militante Kurden, Soldaten und Polizisten sterben, bewegen die vier jugendlichen Leichen die Stadt. Vielleicht, weil ein Foto der Leiche von Isa Oran im Schnee zu einer Ikone des Widerstands geworden ist. Viele Menschen sind empört darüber, dass der Staat es nicht zulässt, die jungen Kämpfer zu begraben. „Auch unpolitische Kurden, die anfangs den Bau von Barrikaden in der Altstadt als unsinnige Kriegsspiele abgelehnt haben, stehen angesichts der Brutalität des Staates nun hinter den Barrikadenkämpfern“, sagt Serra Bucak, Sozialdezernentin der Stadtverwaltung von Diyarbakır.

Seit 48 Tagen belagern Polizei und Spezialeinheiten der Gendarmerie die Altstadt. Es herrscht Ausgangssperre. Wer sich auf der Straße bewegt, wird automatisch als PKK-Terrorist beschossen. Auf den Dächern sind Scharfschützen postiert, die jeden unter Feuer nehmen.

Strom und Wasser in den umkämpften Vierteln sind abgeschaltet, die Wohnungen bei Minusgraden eiskalt. Etliche Häuser sind nur noch Ruinen. Für einen halben Tag wurde die Ausgangssperre nach den ersten zwei Wochen der Belagerung aufgehoben. In der Zeit verließen die meisten Bewohner von Sur ihre Häuser und Wohnungen.

„Von 30.000 Menschen in dem umkämpften Teil von Sur sind höchstens noch 3.000 in ihren Wohnungen“, schätzt Serra Bucak. „Wir dürfen die Leute dort nicht versorgen. Es sind meistens alte Menschen, die ihre Wohnungen nicht mehr verlassen konnten. Es heißt, ab und zu gibt die Polizei ihnen Brot und Wasser.“

Gespenstische Normalität

Außerhalb der Altstadt herrscht gespenstische Normalität. Nach dem rasanten Wachstum Diyarbakırs in den vergangenen 20 Jahren macht das historische Zentrum nur noch einen Teil der Millionenstadt aus. In den ersten Wochen nach Beginn der Belagerung zogen fast jeden Tag Demonstrationen von der Neustadt in Richtung Dağkapı, die dann die Polizei gewaltsam auflöste.

Nun haben sich die Bewohner der Stadt scheinbar mit dem Krieg im Nachbarviertel abgefunden. Die Menschen gehen zur Arbeit, die Kinder zur Schule, und selbst die Männercafés an der Stadtmauer sind wieder gut gefüllt.

Nur wenn eine besonders schwere Detonation die Altstadt erschüttert, stocken die Gespräche kurz. Nachts, sagt einer der Kaffeehausbesucher, werde manchmal so heftig geschossen, dass die Kinder davon aufwachen. Durch die Neustadt fahren nun schwere Radpanzer, die wie andere Verkehrsteilnehmer an der Ampel warten, blinken, abbiegen, um dann in der Altstadt das Feuer zu eröffnen. Die Armee fährt zur Arbeit.

Viele sehen dem zu mit ohnmächtiger Wut, andere mit einem Schulterzucken. Für die Basarhändler und Hoteliers, deren Läden und Häuser in der Altstadt liegen, ist der Krieg auch eine ökonomische Katastrophe. „Wir halten uns nur noch mit Wucherkrediten über Wasser“, erzählt ein Schuhverkäufer vor seinem verrammelten Shop im nicht belagerten Teil der Altstadt. „Keine Ahnung, wie wir das noch länger schaffen sollen“. Schon vor den Kämpfen waren in Diyarbakır 60 Prozent ohne Job. „Diyarbakır ist die ärmste Millionenstadt der Türkei“, sagt Serra Bucak.

Die Gewaltspirale

Nach einem halben Jahr der sich schneller drehenden Gewaltspirale stehen sich die meisten Kurden und ein großer Teil der Türken scheinbar unversöhnlich gegenüber. Die Kurden machen den türkischen Präsidenten Recep Erdoğan für den Abbruch der 2013 begonnenen Friedensgespräche verantwortlich.

Die meisten Türken sind hingegen davon überzeugt, dass die kurdische PKK-Guerilla allein für den neuerlichen Gewaltausbruch zuständig ist. Diese Sicht heizen die Staatsmedien mit Propaganda an. Hinzu kommt, dass die türkische Armee nach wie vor eine Wehrpflichtigen-Armee ist und viele türkische Familien unmittelbar von den Kämpfen betroffen sind. Die im Kurdengebiet getöteten Soldaten kommen in der Regel aus dem Westen des Landes, die meisten sind Söhne armer Familien. Die täglichen Beerdigungen dieser Söhne heizt die Stimmung im Westen der Türkei weiter an.

Die Geschichte von Mehmet Oran und seinem getöteten Sohn Isa erzählt von einer anderen Realität, als sie in den meisten türkischen Zeitungen über die „Ungeheuer“ der PKK verbreitet wird. Vater Mehmet Oran ging 1992 von Diyarbakır nach Istanbul. Zunächst arbeitete er auf dem Bau, später gründete er im Vorort Büyükçekmece eine kleine Baufirma.

Von seinen fünf Kindern ist Sohn Isa der drittgeborene. Mehmet glaubt an den Aufstieg durch Bildung. „Mein Sohn Isa“, erzählt er, „hatte bei der Prüfung für den Zugang zur Universität in ganz Istanbul eine der besten Mathematik-Noten. Er war ein kluger Junge“. Isa bekam einen Studienplatz für Chemie an einer Universität in Izmir im Westen der Türkei, weit entfernt vom Kurdengebiet.

Dort fühlte er sich als Kurde diskriminiert und engagierte sich in einem kurdischen Studentenverein. „Immer wenn sie an der Universität einen Infostand aufbauen wollten, wurden sie von nationalistischen Studenten verprügelt. Isa wurde dauernd verhaftet“, erzählt sein Vater.

Achtmal, so Mehmet, wurde Isa vom Staat angeklagt. Er ging immer weniger zur Uni und verschwand eines Tages ganz. „Vor drei Monaten habe ich ihn zum letzten Mal in Istanbul gesehen“, erzählt Mehmet. „Ich wusste nicht, wo er war, bis seine Leiche im Internet auftauchte“. Mehmet ist traurig, aber er kann seinen Sohn verstehen. „Der Staat hat ihn in den bewaffneten Widerstand getrieben“.

Häuserkämpfe hinter Barrikaden

Seit mehr als einem Monat versucht der Staat nun mit einem Großaufgebot von Militär, Polizei und Spezialkräften, Sur wieder unter Kontrolle zu bekommen. Bislang vergeblich.

„Noch nicht einmal ein Zehntel der Barrikaden hat die Armee in Sur erobern können“, behauptet Firat, ein großer, kräftiger Mittzwanziger, der sich selbst als Guerilla-Journalist bezeichnet und für eine PKK-nahe Agentur Informationen besorgt. Die Gassen in der Altstadt sind so eng, dass die Panzer und anderes schweres Gerät nicht hineinfahren können. „Im Häuserkampf“, sagt Firat, „kennen wir uns besser aus.“

Firat hat wochenlang in Kobani, der kurdischen Stadt auf der syrischen Seite der Grenze, gegen den IS gekämpft, als der im Herbst 2014 Kobani belagerte. „Jetzt tragen wir den Kampf von Kobani, den Kampf um die autonome kurdische Zone in Syrien in die kurdischen Gebiete der Türkei“. Firat ist überzeugt, dass die alte Guerilla-Parole von den Kämpfern, die sich in der Bevölkerung wie Fische im Wasser bewegen, auch in den kurdischen Gebieten der Türkei zutrifft. „Die Bevölkerung unterstützt uns, sie können uns nicht besiegen“.

Frieden ist nicht in Sicht

Murad Akıncılar ist ein erfahrener Mann in der Analyse des türkisch-kurdischen Konflikts. Seit den 1970er Jahren verfolgt er das Erwachen der kurdischen Nationalbewegung in der Türkei. Akıncılar ist Geschäftsführer des parteiunabhängigen Instituts für politische und soziale Recherche in Diyarbakır. Aus den Fenstern des Instituts nahe der Altstadt hört er den Kanonendonner und sieht die Rauchpilze aus der Kampfzone aufsteigen. Er hat in der Vergangenheit Vorschläge für Friedensverhandlungen entwickelt. „Davon sind wir im Moment weit entfernt“, sagt er.

„Die Kämpfe in Sur und in den kurdischen Städten entlang der syrischen und irakischen Grenze wie Cizre, Nusaybin, Siirt und Silopi, sind erst der Eröffnungszug“, glaubt er. „Die PKK geht nicht mehr von einem innertürkischen Konflikt aus, sondern sieht sich in einem grenzübergreifenden, regionalen Kampf. Dazu gehören die Kurdengebiete im Nordirak, in Syrien und in der Südosttürkei.“

Murad Akıncılar glaubt, dass die PKK sich in einer Position der Stärke sieht. „Sie ist in Syrien erfolgreich und stellt auch im Nordirak unter den Kurden, die gegen den IS kämpfen, die erfahrensten und am bestausgebildeten Kämpfer.“ Seiner Meinung nach hat Erdoğan, als er während der Kämpfe um Kobani stillschweigend den IS unterstützte, dem Friedensprozess mit den Kurden in der Türkei den Todesstoß versetzt. Mit den Luftangriffen auf PKK-Lager im Nordirak habe er eine neue militärische Runde der Auseinandersetzung eingeläutet. „Die wird heftiger werden als alles, was wir bisher hatten.“

„In den 1990er Jahren fand der Kampf zwischen der PKK und der Armee hauptsächlich in den Bergen und in den Dörfern statt. Jetzt hat die PKK mithilfe ihrer Jugendorganisation YDG-H den Kampf in die Städte getragen.“ Akıncılar bestätigt, was auch andere Beobachter in Diyarbakır sagen. Die Kämpfer in Sur seien entgegen der staatlichen Propaganda tatsächlich überwiegend junge Leute aus den Stadtvierteln, in denen sie die Barrikaden gebaut und die Gräben ausgehoben haben. „Ihre erfahrenen Kämpfer aus dem Irak hat die PKK noch gar nicht eingesetzt. Das bereiten sie für das Frühjahr vor“.

„Auch unpolitische Kurden stehen angesichts der Brutalität des Staates nun hinter den Kämpfern“, sagt die Sozial-

dezernentin von Diyarbakır

Friedensverhandlungen, schüttelt Murad Akıncılar seinen Kopf, seien in den kommenden Monaten nicht denkbar. Die kurdische-linke HDP „kann zum Frieden aufrufen, aber niemand hört mehr auf sie“. Das bestätigt der Guerilla-Journalist Firat.

Mehmet Oran, der schon mehr als zwei Wochen in Diyarbakır auf die Leiche seines Sohns wartet, hat mit Angehörigen der getöteten Kämpfer einen Hungerstreik begonnen. „Wir werden nicht aufhören“, sagt er, „bis wir unsere Kinder beerdigen können.“

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