Bürgerinitiative kritisiert Reaktor-Abbau: Abriss in radioaktiver Grauzone?
Ausgerechnet Atomkraftgegner fordern den Rückbaustopp in Neckarwestheim. Sie fürchten, die Demontage des AKWs könnte unnötig Strahlung freisetzen.
FREIBURG taz | Wird beim Rückbau des Atomkraftwerks Neckarwestheim mehr Radioaktivität frei als nötig? Die „Arbeitsgemeinschaft Atomerbe Neckarwestheim“, ein Zusammenschluss regionaler Anti-Atom-Initiativen, ist davon überzeugt. Darum fordern jetzt ausgerechnet die AKW-Gegner einen einstweiligen Rückbaustopp.
Aktuell befindet sich der im Jahr 2011 stillgelegte Block 1 in der Nachbetriebsphase. Das ist der Zeitraum, in dem die Brennelemente auskühlen müssen. Die Atomkraftgegner nennen diese Phase „eine radioaktive Grauzone“, weil der Rückbau beginnt, obwohl noch keine atomrechtliche Stilllegungs- und Abbaugenehmigung vorliegt.
Konkret kritisiert die Bürgerinitiative, dass der verstrahlte Primärkreislauf des Kraftwerks bereits 2013 gespült und geputzt wurde. Über die dabei ausgewaschenen radioaktiven Stoffe und deren Verbleib gebe es jedoch keine Auskunft. Auch den frühzeitigen Abriss der Kühltürme im Jahr 2012 kritisieren die Bürger. Das Baumaterial sei bereits auf Deponien oder als Rohstoff in den Wirtschaftskreislauf gebracht worden, ohne dass es „konkrete Auskunft über den Verbleib und die noch vorhandene radioaktive Belastung“ gebe. Kurz: Es herrsche „das Prinzip Vertuschung“.
Schwere Vorwürfe, die das für die Atomaufsicht zuständige Landesumweltministerium natürlich nicht auf sich sitzen lassen kann. Es kontert mit Gesetzen und Verfahrensvorschriften: Die bei der Spülung des kontaminierten Kreislaufs angefallenen Stoffe seien in den „betrieblich hierfür vorgesehenen Behältern“ deponiert worden. Nun würden sie von einem Fachbetrieb „für die Lagerung in einem Endlager für schwach- und mittelradioaktive Abfälle vorbereitet“. Und das gesamte Entsorgungskonzept sei transparent in den öffentlichen Sitzungen der „Informationskommission Neckarwestheim dargestellt und erläutert“ worden.
Die Bürger bleiben dennoch skeptisch. 400.000 Tonnen an Bauschutt und Abrissmüll, der mehr oder weniger noch strahle, fielen an, rechnet die AG Atomerbe vor. „Wir fordern daher, dass der Rückbau gestoppt wird, bis alle Anlagenteile auf Strahlung untersucht und katalogisiert wurden“, sagt AG-Sprecher Franz Wagner – also bis zum Vorliegen der ersten Abrissgenehmigung.
„Interpretierbarer“ Stilllegungsleitfaden
Das fordert auch Wolfgang Neumann von der Intac, einem Gutachterbüro in Hannover, der kürzlich auf Einladung der AG Atomerbe in Stuttgart referierte. Denn auch aus Sicherheitsgründen dürfe man erst mit dem Rückbau von systemrelevanten Anlagenteilen beginnen, wenn die Brennstäbe aus dem Reaktor entfernt sind. Bei früheren Anlagen, sagt Neumann, sei eine solche Reihenfolge unumstößlich gewesen, doch heute seien die Formulierungen im Stilllegungsleitfaden des Bundesumweltministeriums „unterschiedlich interpretierbar“. Das Umweltministerium in Stuttgart wiederum kann die Aussage, dass die Richtlinien früher strenger waren, „so nicht nachvollziehen“.
Sicher jedenfalls ist: Den Kraftwerksbetreibern kommt eine laxere Handhabung beim Rückbau entgegen. Denn rund fünf Jahre lang müssen die Brennelemente im Abklingbecken liegen; erst dann sind sie ausreichend abgekühlt, ins Zwischenlager verfrachtet zu werden. Wer in dieser Zeit schon mit dem Rückbau beginnt, könne Kosten sparen, sagt Neumann.
Den Atomkraftgegnern in Neckarwestheim geht es nun nicht allein um einen vorläufigen Rückbaustopp vor Ort, sie wollen zugleich bundesweit eine Debatte lostreten. Denn obwohl das Thema alle Reaktorstandorte betrifft, werde diese Debatte noch sehr verhalten geführt, sagt AG-Sprecher Wagner. Das liege auch daran, dass die Bürger sich in die Details der Technik erst noch einarbeiten müssten: „Die Anti-AKW-Bewegung ist beim Thema Rückbau noch im Lernprozess.“
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