Bürger in Sorge: Streit um die Wulffsche Siedlung
Anwohner misstrauen dem Versprechen der Investoren, sie könnten zurück in ihre Häuser.
Die Eiche ist gefallen, ein Bagger trägt die Hammaburg fort. Dahinter steht ein Baukran, der Klötze stapelt, auf denen das Euro-Zeichen prangt. „Langenhorn oder Spekulations-Bezirk Nord?“, steht über dem verschandelten Wahrzeichen des Stadtteils. Diese Szene schmückt einen Flyer der Bürgerinitiative „Stoppt Langenhorn 73“, die sich vor drei Jahren formiert hat, um gegen den Total-Abriss der Wulffschen Gartensiedlung vorzugehen. Doch ist das de facto wohl nicht mehr zu verhindern.
Trotz eines geglückten Bürgerentscheids im Oktober 2011, bei dem 68 Prozent der Teilnehmer gegen den Bebauungsplan votierten, wird der Plan aller Voraussicht nach genehmigt werden. Inzwischen liegt er öffentlich aus. Durch eine Evokation riss der Senat im März 2012 das Verfahren an sich. Stadtentwicklungssenatorin Jutta Blankau (SPD) begründete das Vorgehen mit dem Argument, das Bauprojekt sei ein Schritt zu mehr bezahlbarem Wohnraum. Aber just dieser Aspekt ist juristisch stark umstritten.
„Es gibt keine rechtlich belastbare Aussage, dass die Eigentümer mehr Wohnungen bauen“, sagte Joachim Lau, Mitgründer der Initiative, kürzlich im Gemeindesaal der Langenhorner Ansgar-Kirche vor etwa 100 Anwesenden. Eine ältere Dame aus dem Publikum rief: „Ich wohn’ seit 60 Jahren da, und jetzt gehen die so mit uns um!“ Sie fürchte, aus ihrer Wohnung gedrängt zu werden.
Ist diese Angst berechtigt? Das ist die zentrale Frage des Konflikts. Vor drei Jahren verkauften „die“ – die Familien Pisana und Rickertsen/Haas – die Hälfte der 1942 erbauten Wulffschen Siedlung an die Stuttgarter GWG Gesellschaft für Wohnungs- und Gewerbebau.
Auf dem 7,5 Hektar großen Gebiet stehen 546 Wohnungen. Diese sollen ob ihrer Baufälligkeit abgerissen werden, um bis zu 700 neue Wohnungen in circa 15 Jahren zu errichten. So steht es im städtebaulichen Vertrag. Ferner heißt es, dass 60 Prozent der zusätzlichen Wohnungen öffentlich gefördert werden müssen. Folglich entstünden 90 Sozialwohnungen.
An diesem Punkt setzt die Hauptkritik der Bürgerinitiative an. Im städtebaulichen Vertrag stehe, dass „bis zu 150 Wohneinheiten entstehen sollen“ – nicht müssen. Auch sei rechtlich nirgends abgesichert, dass keine Eigentumswohnungen gebaut werden, sagt Joachim Lau.
Überdies gehe aus den Antworten des Senats auf eine Kleine Anfrage des Abgeordneten Olaf Duge (Grüne) und der Formulierung mit „bis zu“ hervor, dass es keine bauliche Untergrenze gebe. „Möglich, dass später genauso viele Wohnungen in der Siedlung stehen wie zuvor – nur größere und teurere“, sagt Lau. Die Krux: Nur zusätzliche Wohnungen werden laut Vertrag öffentlich gefördert.
Martina Schenkewitz, seit Kurzem Mitglied der SPD und Vorsitzende des Mieterbeirats der Siedlung, bezeichnet die Kritik der Initiative dennoch als „haltlos“. Sie jage den Bewohnern Angst ein. „Ich vertraue den Eigentümern, dass sie unsere Siedlung modernisieren und mehr Wohnraum schaffen“, sagt sie. Ihres Erachtens ist der Neubau der Siedlung nötig: die Wohnungen seien mit durchschnittlich 49m(2) zu klein, schimmelig und schlecht gedämmt
Ende September 2011 haben die Eigentümer ihren Mietern in einem Schreiben einen „ausdrücklichen“ Kündigungsschutz versprochen, sollte der Bebauungsplan Rechtskraft erhalten. Dieser Schutz ist für Schenkewitz ein Indiz dafür, dass die Eigentümer fair seien: „Warum tun sie das sonst?“
Aus taktischem Kalkül, erwidert Olaf Duge (Grüne), Mitglied der Bürgerschaft. Er kritisiert den Kündigungsschutz, weil er privatrechtlich geregelt, und somit nicht in den städtebaulichen Vertrag integriert sei: „Es gibt keine Ansprüche der Mieter, die sie einklagen können.“ Der Kündigungsschutz sei lediglich eine Beruhigungspille.
Bis zum 19. Dezember liegt der Bebauungsplan „Langenhorn 73“ in der Stadtentwicklungsbehörde in Wilhelmsburg öffentlich aus. Jeder Bewohner kann hinfahren und individuelle Beschwerden einreichen. Michael Kuckhoff von der Bürgerinitiative „Stoppt Langenhorn 73“ ist allerdings überzeugt: „Wir werden den Abriss der Siedlung nicht verhindern können. Einmischen sollten wir uns aber weiterhin.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen