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„Bülowstraße“ im Grips-Theater BerlinDas Leben ist ein U-Bahnhof

Das Grips schickt drei FreundInnen um die „Bülowstraße“ auf Selbstsuche. Als Textgrundlage diente Autor Juri Sternburg das gleichnamige Album von LEA.

Äußerst zutraulich sind die Großstadtfüchse in der „Bülowstraße“. Musikerin Julia Horváth und Schauspielerin Johanna Meinhard Foto: David Baltzer – Bildbühne

Kurz vor der Pause ist der U-Bahnhof Bülowstraße von Moos überzogen. Auf dem wandgroßen Video breitet sich das grüne Geflecht immer weiter auf den Treppen aus, bis der Bahnhof fast darunter verschwindet. Mila wohnt um die Ecke. Sie ist jung, vielleicht verliebt, oft betrunken und überlegt, ob der Bahnhof sie vermisst, wenn sie nicht da ist. In ihrem Album „Bülowstraße“ beschreibt die Berliner Popsängerin LEA das Lebensgefühl einer 19-Jährigen.

Oft stellt sie den Liedern kurze Dialoge voran, in denen die Lebensrealität ihrer Protagonistin umrissen wird. Das Grips-Theater hat aus dieser Vorlage ein Musical gemacht. So hat der Theaterautor Juri Sternburg aus LEAs Texten die Geschichte eines Freundschaftstrios entwickelt. Mila, Timur und Yasmin stehen an der Schwelle zum Erwachsenwerden und ringen mit- und gegeneinander um die passende Definition vom Sinn des Lebens.

Schon in der Anfangsszene bringt Mila ihre Vorstellung vom wahren Leben auf den Punkt und Johanna Meinhard singt: „Ich will nie sein wie ihr … manchmal fühl ich mich wie ein Fuchs in der Großstadt …“ Immer wieder krabbeln Füchse aus dem Unterbau der Bühne, sie sitzen herum und lassen sich sogar von Mila streicheln.

Das sind die drei BühnenmusikerInnen, die, gewandet in fantasievolle und gleichzeitig praktische Fuchskostüme (Kostüm: Pierre-Yves Dalka), immer wieder ihre von Efeu überwucherte Orchesterecke verlassen und die Bühnenplattform tiefenentspannt entern. Nicht selten hat eine von ihnen, Julia Horváth, ihre Gitarre mit dabei und kann Johanna Meinhard bei ihrem nächsten Song so gleich begleiten.

LEAs Songs gewinnen an Tiefe

Sternburgs kurze, prägnante Dialoge machen komplexe zwischenmenschliche Beziehungen sichtbar. Es sind in ihrer Lebensrealität sehr konkrete Figuren, die hier gezeichnet werden. Sternburg gibt jeder Figur ihre eigene Aufrichtigkeit. Er bettet LEAs Bülowstraßen-Lieder organisch in die Textvorlage ein und so entsteht ein ziemlich genialer Synergieeffekt: LEAs Songs gewinnen durch die Bühnenerzählung an Tiefe, gleichzeitig kommt die Handlung durch die diskrete, genaue Poesie der Lieder zu einer emotionalen Essenz, die berührt.

Im Grunde geht es in „Bülowstraße“ zwei kurze Stunden um zwei existenzielle Fragen: „Wie soll ich leben?“ und „Wie können wir zusammenleben?“ Neben Mila, Timur und Yasmin gibt es Milas On-and-off-Beziehung Jerome, ihre dysfunktionalen Eltern und Timurs ersten Lover. Milas Mutter, gespielt von Katja Hiller, will weg von ihrem alkoholabhängigen Ehemann und gesteht ihrer pubertären Tochter: „Ich brauch mal Zeit für mich. Zeit zu verstehen, wer ich bin. Nur weil ich deine Mutter bin, bedeutet das nicht, dass ich immer weiter weiß. Ich hab genau so Fragen wie du. Ich weiß genauso so oft nicht weiter …“

Sigrun Fritsch und Sönke Ober haben die Bühne mit einer beige-grauen Plattform bestückt, die verschiedene Ebenen, Treppen, Bodenklappen und drei freistehende Türen hat. Jānis Putniņš projiziert darauf abwechselnd reale und nicht reale Videos.

So blickt Johanna Meinhard gleichzeitig von allen Türen ins Publikum, steht analog vor ihrem Ebenbild und singt „Brauch nur den Traum, den ich habe.“ Putniņš Projektionen auf der Bühnenrückwand sind eine starke atmosphärische Setzung. Sie verorten das Geschehen immer wieder neu im Seelenort Bülowstraße, dessen U-Bahnhof für die Figuren zugleich Zuflucht und Aufbruchsort ist. Fritschs ruhige Regie komponiert die SpielerInnen harmonisch in den Raum hinein und positioniert sie gleichzeitig dramaturgisch zueinander.

Das Theaterstück

Wieder am 24. Februar, 22., 23., 24. März im Grips Theater am Hansaplatz, Berlin-Tiergarten

Essenziell sind Drums, Keyboard und Gitarre, die Lieder und Handlung sinnlich und emotional polstern. Es ist ein Sog, der in die Zuschauerreihen schwappt, die Figuren kommen einem in ihrer Suche nach dem für sie richtigen Leben nah. Denn im Spiel aller Darstellenden (Berit Vander ist erst vor ein paar Tagen für die erkrankte Lisa Klabunde als Yasmin eingesprungen!) entsteht eine seltene Wahrhaftigkeit, gespeist von der Zuneigung zu denen, die man verkörpert.

Johanna Meinhard und das Ensemble performen die LEA-Songs aus ihrer jeweiligen Rolle heraus, was dem Liedtext eine bezwingende Unmittelbarkeit gibt. Sängerin Lea-Marie Becker sitzt bei der Premiere im Publikum, ihre Fans auch. Das wird klar, als sie beim Schlussapplaus das Mikro in die Hand nimmt und mit dem Ensemble zusammen einen Bülowstraße-Song intoniert. Der Saal kocht. Die SpielerInnen lächeln. Und dann fährt die U-Bahn nicht am Hansaplatz. Das macht nichts. Denn wir haben jetzt Flügel.

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