Buchautor über Euthanasie-Überlebende: „So eine Diagnose sagt nichts aus“

Die Bremerin Paula Kleine überlebte die Euthanasie und die Psychiatrie. Ein Buch über ihr Leben erzählt zugleich die Geschichte der Behindertenhilfe.

Aufnahme vom Filmset von "Verrückt nach Paris" 2014. In Köln an der Hohenzollernbrücke steht Darstellerin Paula Kleine zwischen Frank Grabski und Wolfgang Göltsch

Zwischenstopp am Rhein: Paula Kleine mit Frank Grabski (l.) und Wolfgang Göltsch am Filmset Foto: Eike Besuden/Pinguin Studios

taz: Sie haben ein Buch geschrieben, „Die große Welt und die kleine Paula“ – es ist die Geschichte von Paula Kleine. Wer war diese Frau, für die sich die große Welt sonst kaum interessiert hat, Herr Becker?

Heinz Becker: Paula Kleine wurde 1928 geboren und hat fast ihr ganzes Leben in Einrichtungen der Psychiatrie und der Behindertenhilfe zugebracht. Sie hat die Euthanasie überlebt, weil sie von mutigen Ordensschwestern auf dem Dachboden versteckt wurde, als die Transporte in die Vergasungsanstalten kamen.

Sie hat viel Gewalt erfahren und gesehen und lebte schließlich im Kloster Blankenburg, als die Anstalt 1988 aufgelöst wurde und Paula Kleine nach Bremen in eine betreute Wohngemeinschaft des Arbeiter-Samariter-Bundes (ASB) zog. Am Ende ihres Lebens wurde sie durch ihre Hauptrolle in dem Film „Verrückt nach Paris“ von Eike Besuden als Filmschauspielerin bekannt.

Sie kennen viele Menschen mit Behinderungen – warum bekam gerade Frau Kleine ein Buch?

Ihre Geschichte ist besonders, auch wenn es viele Menschen gibt, die genauso gelebt haben und ihr Leben auch lange in Schlafsälen mit 24 Betten in zwei Reihen verbringen mussten. Anders als andere konnte Paula Kleine ihre Geschichte aber jedenfalls teilweise selbst erzählen – viele Menschen, die Jahrzehnte in der Anstaltspsychiatrie lebten, sprechen ja nicht mehr. Zudem habe ich sie über 25 Jahre lang gekannt und begleitet; 2014 starb sie. Das Buch ist über 20 Jahre hinweg entstanden, auch in vielen Gesprächen mit ihr selbst.

Was für eine Behinderung hatte sie?

Sie war fast ihr ganzes Leben lang als „schwachsinnig“ diagnostiziert, später hieß das dann geistige Behinderung. Aber so eine Diagnose sagt ja gar nichts über den Menschen aus. Wenn man sich ihre Lebensumstände anguckt – ich wäre wohl auch geistig behindert geworden, hätte ich so leben müssen. Sie wurde mit drei Jahren aus der Familie genommen und kommt aus sehr armen Verhältnissen, der Vater soll Alkoholiker gewesen sein. Die Eltern hatten fünf Kinder und waren beide arbeitslos.

67, war 31 Jahre lang bis 2019 Leiter einer Tagesförderstätte des ASB in Bremen.

Ihre Lebensgeschichte steht auch stellvertretend für die der Behindertenhilfe?

Ja. Man kann einen Menschen alleine aus seinen biografischen Daten ja nicht verstehen. Die Menschen, die Paula Kleine begleitet haben, hießen zuerst Pfleger und Schwestern, dann Betreuer und nun Assistenten. Was diese Menschen für Haltungen hatten, das hatte Einfluss auf das Leben von Frau Kleine. Deswegen habe ich parallel zu der Geschichte von Paula Kleine auch die der Behindertenhilfe aufgeschrieben. Wie die Menschen denken, so gehen sie auch mit Leuten um.

Ist das eine rein retrospektive Betrachtung aus einer inzwischen überwundenen Vergangenheit?

Gespräch mit Filmausschnitten mit Autor Heinz Becker und Regisseur Eike Besuden am Donnerstag, 15. 10.2020, ab 17.30 Uhr, Gondel-Filmtheater, Schwachhauser Heerstraße 207 in Bremen

Das Buch: Heinz Becker, „Die große Welt und die kleine Paula. Eine Geschichte der Behinderung“, 327 S., Beltz-Verlag, 29,95 Euro

Nein. Es ist zwar vieles besser geworden, aber die Gedanken, dass es lebensunwertes Leben gibt, sind ja nicht 1933 plötzlich in die Köpfe hineingerauscht und waren dann 1945 ebenso schnell wieder verschwunden. Spuren davon finden sich ja bis heute in der gesellschaftlichen Diskussion, in der Sonderpä­dagogik wie in der Psychiatrie, etwa wenn es um vorgeburtliche Bluttests zur Verhinderung der Geburt von Menschen mit Downsyndrom geht.

Da ploppen rassenhygienische Ideen auf, und sie wurden – notdürftig überdeckt – ja auch von Leuten wie Thilo Sarrazin vertreten. Menschen mit Behinderungen erleben zwar nicht mehr so viel Gewalt wie Frau Kleine, aber sie werden immer noch ausgesondert von der Gesellschaft. Da hilft es, in die Vergangenheit zu gucken, um Entwicklungslinien zu sehen. Und die Abwertung von anderen Menschen – das sind ja Denkmuster, die nicht nur behinderte Menschen treffen.

Hat sich die Haltung gegenüber Menschen mit Behinderungen also weniger stark geändert als wir uns das vormachen?

Die Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderungen sind heute viel besser als vor 50, vor 20 Jahren. Aber da ist noch viel Luft nach oben. Aber die grundsätzliche Einstellung, dass es für diese Menschen besser ist, wenn sie unter ihresgleichen und abgesondert von der Welt sind – die ist noch vielfach anzutreffen.

Also ist Ihr Buch ein Plädoyer für die Inklusion?

Ja! Menschen mit Behinderungen sind heute offiziell keine Patienten und auch keine hilfsbedürftigen Fürsorgeempfänger mehr. Man muss aber auch klar sagen: Das sind Menschen, die die gleichen Rechte auf gesellschaftliche Teilhabe haben wie alle anderen. Das sagt man so leicht, aber das Unterstützungssystem, das wir heute haben, ist aus den Sondereinrichtungen entstanden: Das Heim ist eine Weiterentwicklung der Anstalt.

Sollte es gar keine solchen Heime mehr geben?

Das kann man sich wünschen, aber das ist noch ein sehr weiter Weg. Jeder Mensch mit Behinderung, der gern mit anderen Menschen mit Behinderung zusammenleben will, sollte das tun können – es sollte aber nicht seine einzige Möglichkeit sein.

Könnte Frau Kleine heute besser geholfen werden?

Vermutlich schon. Ihre Entwicklungschancen und Möglichkeiten wären heute ganz andere.

Welche Bedeutung hatte die Hauptrolle in „Verrückt nach Paris“ für sie?

Es war das letzte große Ereignis in ihrem Leben. Das sind tolle Erfahrungen, die Menschen wie Paula Kleine in ihrem Leben eigentlich gar nicht machen können. Da hat sie großes Glück gehabt.

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