piwik no script img

Buch zur chinesischen KulturrevolutionUmerzogene Subjekte

Der chinesische Schriftsteller Wang Xiaobo erzählt in „Das Goldene Zeitalter“ satirisch vom Albtraum der Kulturrevolution.

Chinesisches Propagandaposter von 1971 Foto: imago

Eines Tages, während der chinesischen Kulturrevolution, kommt die junge Ärztin Chen Qingyang den Berg ins Tal hinunter, wo der Student Wang Er, der Held und Erzähler aus Wang Xiaobos Roman „Das Goldene Zeitalter“, in einer landwirtschaftlichen Kooperative arbeiten muss. Wang Er hatte Chen Qingyang nur einmal kurz gesehen, als er hinaufgegangen war, um sich von der Ärztin eine Spritze gegen die Schmerzen seines von der ungewohnten Feldarbeit geschundenen Rückens geben zu lassen.

Sie bittet ihn, öffentlich zu erklären, dass sie kein „ausgelatschter Schuh“ ist. Denn das sei sie nicht. Doch Wang Er enttäuscht Chen Qingyang. Seiner Erfahrung nach wäre die Wahrheit im Falle eines Gerüchts irrelevant.

„Wenn du nicht als ausgelatschter Schuh gelten willst, musst du dir dein Gesicht schwarz machen und dafür sorgen, dass deine Brüste hängen, dann erzählen die Leute auch nicht mehr, dass du ein ausgelatschter Schuh bist. Das wäre allerdings kein gutes Geschäft für dich. Besser wäre es, wenn du mit einem anderen Mann schläfst, dann kannst du dich selbst mit bestem Gewissen als ausgelatschten Schuh bezeichnen.“ Shen Qingyang wird rot, schweigt und geht.

Gescheiterter Annäherungsversuch

Dann aber taucht sie ein zweites Mal bei Wang Er auf und sagt, es würde nun behauptet, sie hätte eine Affäre mit ihm, die könne er doch überzeugend abstreiten. Wang Er, der noch Jungfrau ist, macht einen weiteren Annäherungsversuch bei Shen Qingyang und bekommt daraufhin von ihr eine geknallt.

Das Buch

Wang Xiaobo: „Das Goldene Zeitalter“. Aus dem Chinesischen von Karin Betz. Matthes & Seitz, Berlin 2024, 286 Seiten, 25 Euro

„Natürlich wollte ich ihre Anatomie studieren, keine Frage, aber mit ihrer Erlaubnis. Wenn sie damit nicht einverstanden war, hätte sie es ja sagen können. Mich zu schlagen, war jedenfalls nicht fair. Sie lachte laut auf und sagte, sie könne den Anblick dieses Dingsda an meinem Körper nicht ertragen. Sich dieses alberne, peinliche Dingsda ansehen zu müssen, bringe sie in Rage.“

„Das Goldene Zeitalter“ war in China ein Bestseller. Es überrascht deshalb, dass der satirische Roman über die Zeit der Kulturrevolution, der im Original bereits 1992 erschienen ist, erst jetzt übersetzt wurde. Dabei hat Wang Er, den Wang Xiaobo mal in der Ich-Form auftreten lässt, mal von ihm als allwissender Erzähler erzählt, als jugendlicher Rebell durchaus Entsprechungen in der westlichen Literatur.

Verlogenheit des Establishments

Es ist die Verlogenheit und Heuchelei des Establishments, von Eltern und Gesellschaft, die Wang Xiaobo mit seinem Roman in Frage stellt und die gibt es in allen Kulturen. Aber vielleicht verhindern hierzulande ambivalente Gefühle gegenüber dem Land der Mitte, das inzwischen einen großen Teil der Gegenstände unseres Lebens produziert, während es gleichzeitig wegen seiner Geopolitik sowie seines autokratischen Führungsstils als Bedrohung wahrgenommen wird, dass mehr chinesische Literatur übersetzt wird.

Wang Xiaobo, der 1997 im Alter von nur 44 Jahren starb, konnte „Das Goldene Zeitalter“ zunächst nur in Taiwan veröffentlichen. Zu sehr hatte er dem Großen Vorsitzenden und seinen Anhängern mit seinem Roman ans Bein gepinkelt. Erst einige Jahre nach seinem Tod wurde das Buch auch in der Volksrepublik gedruckt, wo Wang Xiaobo, wie die Übersetzerin Karin Betz im Nachwort schreibt, „unter jungen chinesischen Intellektuellen der Post-Tiananmen-Generation und in der chinesischsprachigen Welt außerhalb der Volksrepublik“ bereits zu einem gefeierten Kult­autor geworden war.

Vieles in Das Goldene Zeitalter ist autobiografisch

Vieles in „Das Goldene Zeitalter“ ist autobiografisch und der Autor wurde wie sein Alter Ego zwei Jahre lang in die Provinz gezwungen, um sich „in der Produktion zu bewähren“. Das geschilderte stürmische Liebesleben von Wang Er dagegen ist wohl Fiktion. Wang Xiaobo war von 1980 bis zu seinem Tod mit der Sexualforscherin und LGBT-Aktivistin Li Yinhe verheiratet, mit der er 1991 die erste ernsthafte Studie über Homosexualität in China veröffentlichte.

Leid und Opfer der Kulturrevolution, die konservativen Schätzungen nach zwischen 1967 und 1976 über eine Million Tote gefordert hat, sind in „Das Goldene Zeitalter“ überall präsent. Im zweiten Teil des Romans, in dem Wang Er an seine Universität nach Peking zurückkehrt, springt ein alter Professor aus dem vierten Stock in den Tod. Ob dabei jemand nachgeholfen hat, wird nie aufgeklärt, weil eine Obduktion der Leiche nicht durchgeführt wird.

Albtraum der Kulturrevolution

Sarkastisch beschreibt Wang Xiaobo die Fesselungen und das öffentliche Zurschaustellen von Wang Er und Chen Qingyang. Oft lauert der Albtraum der Kulturrevolution, von der insbesondere Akademiker betroffen waren, hinter vermeintlich lustigen Geschichten. Größenwahn und Absurdität der Umerziehungsidee, bei der Studenten und Professoren ganzer Universitäten von einem Tag auf den anderen zur Landarbeit in die Provinz geschickt wurden, wird im Roman überall deutlich.

Liao Yiwu, der seit 2011 im deutschen Exil lebt, hat das Leid der Opfer von Kulturrevolution und „Großer Sprung nach vorn“ beeindruckend in „Fräulein Hallo und der Bauernkaiser“ erzählt; Basis seiner Erzählungen waren dabei Interviews mit Betroffenen. Can Xue, von der gerade parallel bei Matthes & Seitz faszinierende Erzählungen unter dem Titel „Schattenvolk“ erschienen sind, erzählt in von Kafka und Borges inspirierten rätselhaft-fantastischen Dystopien von Alltag und Gewalt in China.

Wang Xiaobo hat mit „Das Goldene Zeitalter“ die Satire gewählt, bei der es viel zu lachen gibt, aber bei der dem Leser das Lachen auch oft im Halse stecken bleibt. Es ist ein anderer, aber nicht weniger überzeugender Weg, die Wirklichkeit zu vermitteln, ihr einen Ausdruck zu verleihen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

Kommentarpause ab 30. Dezember 2024

Wir machen Silvesterpause und schließen ab Montag die Kommentarfunktion für ein paar Tage.
  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!