Buch über die Ukraine: Ein Ringen um das Eigene
Das Buch „Die Frontlinie“ des Historikers Serhii Plokhy beantwortet drängende Fragen zur Ukraine als Schauplatz des Ost-West-Konflikts.
Wenn man so will, trägt die Ukraine ihren Zugehörigkeitskonflikt bereits im Namen: „Украина“, „Ukrajína“ bedeutet „Rand“, „Grenzland“. Dass diese Bezeichnung in politischer Hinsicht eigentlich schon seit Jahrhunderten auf das Gebiet der Ukraine zutrifft, kann man in dem neuen Buch des ukrainisch-amerikanischen Historikers Serhii Plokhy mit dem Titel „Die Frontlinie“ nachlesen.
Kulturell, weltanschaulich und ökonomisch, so zeigt sich, ist die Ukraine die gesamte Neuzeit über zwischen Russland und den westlichen Nachbarn hin- und hergerissen.
Sinnbildlich dafür nennt der Autor die vielen Umbenennungen des Platzes im Zentrum von Kyjiw am Ende der Chreschtschatyk-Hauptstraße: Allein seit Beginn des 20. Jahrhunderts trug er die Namen Zarenplatz, Dritte-Internationale-Platz, Adolf-Hitler-Platz, Stalinplatz, Lenin-Komsomol-Platz. Heute heißt er – wie von 1851 an schon einmal – Europäischer Platz. Damit steht er auch für die Bemühungen der Ukrainer, Anschluss an die EU zu finden.
Serhii Plokhy, der selbst aus einer ukrainischen Familie stammt und in Russland aufwuchs und studierte, lehrt heute in Harvard und gilt als einer der profiliertesten Osteuropa-/Ukraine-Experten. „Die Frontlinie“ ist nicht als zusammenhängende Geschichte der Ukraine konzipiert, sondern versammelt eine Reihe von Essays zu verschiedenen Epochen des Landes. Zusammengenommen ergeben sie einen tiefen Einblick in die ukrainische Historie – mit Schwerpunkt auf dem 20. und beginnenden 21. Jahrhundert.
Ein mittelalterliches Großreich
Das Wort „Ukraine“, schreibt Plokhy, wurde erstmals im 12. Jahrhunderts von Kyjiwer Chronisten verwendet. Sein Buch setzt auch zu dieser Zeit etwa ein, mit dem Zerfall der Kyjiwer Rus im 12./13. Jahrhundert, also des mittelalterlichen Großreichs auf dem Gebiet der heutigen Staaten Russland, Ukraine und Belarus. Der Fokus des ersten Teils liegt allerdings auf einem späteren, für die ukrainische Identität wegweisenden Datum: 1654, das Jahr des Vertrags von Perejaslaw.
Serhii Plokhy: „Die Frontlinie. Warum die Ukraine zum Schauplatz eines neuen Ost-West-Konflikts wurde“. Aus dem Englischen von S. Gebauer, T. Schmidt, G. Hens, U. Bischoff, S. Kleiner. Rowohlt Verlag, Hamburg 2022, 544 S., 30 Euro
Die Kosaken errichteten damals mit dem Hetmanat eine Art ukrainischen Vorgängerstaat. Im Unabhängigkeitskrieg gegen Polen brauchten sie einen Verbündeten, den sie im Moskauer Zaren fanden. Dieses Datum wurde jahrhundertelang, zum Teil bis heute, im russischen – und sowjetischen – Narrativ als ukrainisch-russische „Wiedervereinigung“ gedeutet.
Die ukrainische Nationalerzählung, Anfang des 20. Jahrhunderts maßgeblich vorangetrieben vom Historiker und Politiker Mychajlo Hruschewskyj, betonte dagegen eine Kontinuität von der Kyjiwer Rus über das Hetmanat bis zur ersten Ukrainischen Volksrepublik (1917–1920).
Plokhy beleuchtet viele Phasen der wechselvollen ukrainischen Geschichte auch vor dem 20. Jahrhundert sehr ausführlich (etwa die Epoche des Hetman Iwan Masepa und wie diese Figur polarisierte), es ist kaum möglich, sie hier alle zu nennen.
Tiefste Zäsuren
Die tiefsten Zäsuren nehmen allerdings im Buch den größten Raum ein, die Geschichte des Holodomor („Hungertod“) in den Jahren 1932/33 während der stalinistischen Herrschaft zählt natürlich dazu. In der Folge der Zwangskollektivierung der Landwirtschaft durch Stalin und der Enteignung der Bauern (bis hin zu Deportation, wenn sie sich den Zwangsmaßnahmen widersetzten) kam es zu einer Hungersnot, die gezielt gegen die Ukrainerinnen und Ukrainer eingesetzt wurde – drei Millionen ukrainische Bauern sollen während dieser Zeit gestorben sein.
Noch immer bestreiten manche Historiker:innen den geplanten Einsatz des Aushungerns durch Stalin. Plokhy aber hat einen digitalen Atlas des Holodomor („GIS-Kartierung“) ausgewertet. Demnach seien diejenigen Gebiete, „in denen der Bevölkerungsanteil der Ukrainer am höchsten war, […] am schwersten von der Hungersnot getroffen“ worden. Daneben zählten Gebiete, in denen viele Juden und Polen lebten, zu den besonders betroffenen Regionen.
Plokhy hat zudem zahlreiche Tagebücher und Berichte zum Holodomor ausgewertet. Während manch andere Teile des Buchs sich geschichtswissenschaftlich-zäh lesen, kommt der Autor hier den Menschen der damaligen Epoche sehr nah und zeichnet ein eindrücklicheres Bild.
Aus dem Tagebuch einer Lehrerin aus Charkiw zitiert er: „[Der] alte Mann, der auf einer Kaninchenfarm arbeitet, […] ist zwei Jahre lang entkulakisiert worden und vollkommen verarmt, kurz davor, sich in einen Bettler zu verwandeln. Er ist 70 Jahre alt; die alte Frau ist 65, und ihre verkrüppelte Tochter lebt bei ihnen in ihrer Wohnung. Obwohl sie mittellos sind, wurde ihnen alles weggenommen, was sie hätten nutzen können, um bis Februar zu überleben. Die Magd kehrte aus dem Urlaub zurück […] und schrie verzweifelt: 'Wie furchtbar das ist! Sie ruinieren die Bauern vollkommen, nehmen ihnen alles weg, durchwühlen die Truhen; Schreie und Schluchzen überall. Sie brüllen: ‚Nehmt auch die Kinder mit‘, und es gibt fünf davon im Haus.“
Das sowjetische Narrativ
Auch Stalins Überfall auf Ostpolen infolge des Molotow-Ribbentrop-Pakts behandelt der Autor ausführlich. Das sowjetische Narrativ war eine Befreiungserzählung: Die vorgeblich unterdrückten ukrainischen und belarussischen Minderheiten in Polen mussten befreit werden, so konnte man die Invasion Polens legitimieren. Parallelen zur heutigen Putin-Propaganda von der Befreiung der Ukraine drängen sich auf.
Aus der Zeit des Kalten Krieges sieht Plokhy die Katastrophe von Tschornobyl 1986 und die Politik der Vertuschung als entscheidenden Wendepunkt. Die Zivilgesellschaft in der Sowjetunion sei nach diesem Ereignis erwacht: „Das Monopol der Kommunistischen Partei auf politische Betätigung [wurde] gebrochen. Die ersten Massenorganisationen und Parteien der Sowjetunion entsprangen der Umweltbewegung, die vor allem in den stark verschmutzten Industriezentren der Sowjetunion Fuß fassen konnte.“
Der Bandera-Kult
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs erkennt Plokhy eine Spaltung der Ukraine anhand des erinnerungspolitischen Umgangs mit Stalin und Stepan Bandera (1909–1959). Während Stalin im Osten des Landes immer noch vielerorts verehrt wurde/wird, riss man im ukrainischen Westen mehr und mehr Stalin- und Lenin-Figuren nieder. Stattdessen entstand in diesem Landesteil ein Kult um Bandera.
Bandera ist eine umstrittene historische Figur, er kämpfte mit der Ukrainischen Aufständischen Armee im Zweiten Weltkrieg gegen die Sowjets, war aber auch Nazi-Kollaborateur. Er wird heute als ukrainischer Unabhängigkeitskämpfer verehrt, bis in die Mitte der Gesellschaft hinein, es gibt zahlreiche Ehrenmale. Die „Stalin-Bandera-Linie“, wie der Autor sie nennt, ist laut Plokhy in den Nuller- und frühen Zehnerjahren ungefähr deckungsgleich mit der Grenze zwischen mehrheitlich prowestlichen und mehrheitlich prorussischen Einstellungen in der Bevölkerung.
In einzelnen Essays geht Plokhy zum Teil so sehr in die Details, dass man als Leser:in bisweilen den Blick fürs große Ganze verliert. Nah an der Lebenswirklichkeit und packend zu erzählen, gelingt ihm nur streckenweise. „Die Frontlinie“ beantwortet aber überzeugend sehr viele drängende Fragen, die man seit 2014, spätestens seit dem 24. Februar 2022 zum russisch-ukrainischen Verhältnis hat.
„Die Ukraine war jahrhundertelang zwischen dem Russischen Reich und dessen mittel- und osteuropäischen Rivalen, Polen-Litauen und dem Osmanischen sowie dem Habsburger Reich, geteilt. Jede dieser Mächte begünstigte und forderte ihr eigenes religiöses und zivilisatorisches Projekt“, schreibt Plokhy gegen Ende.
Folgern kann man daraus: Das ukrainische Nation Building, das Ringen um eine eigene kulturelle Identität, dauert an bis in die Gegenwart, von westlicher Seite fehlte es viel zu lang an Unterstützung. Diese Leerstelle begünstigte oder ermöglichte Russlands Überfall auf den Nachbarn erst.
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