Buch über Schriftsteller Robert Musil: Rehabilitierung eines Lustmörders
Karl Corino, der Biograf Robert Musils, legt ein neues Grundlagenwerk über den Autor des „Mann ohne Eigenschaften“ vor.
Das Verhältnis von Literatur und Wirklichkeit wird in der Regel so gesehen: Die Realität liefert das Rohmaterial, aus dem Autor:innen ihre Werke konstruieren. Wobei mit „Realität“ meist das Leben nichtsahnender Mitmenschen gemeint ist.
Das war bei Goethe und seinem „Werther“-Roman nicht anders als bei der US-Autorin Kristen Roupenian und ihrer Short Story „Cat Person“ (2017). Gerade das zweite Beispiel zeigt aber, wie rasch dieses instrumentelle Verhältnis zur Wirklichkeit zu Kontroversen über die moralischen oder gar juristischen Grenzen der Kunst führt.
Was aber, wenn man hinterher feststellt, dass das vermeintliche Rohmaterial in Wahrheit faszinierender gewesen wäre als die Kunst, die sich an ihm entzündete? Weil der Autor nur einen allzu selektiven Blick darauf hatte? Ein eindrucksvolles Beispiel dafür liefert Karl Corinos neues Buch über Robert Musil – auch dieser ein Autor, der zeitlebens bedenkenlos sein soziales Umfeld für seine Werke ausschlachtete, von seinem Erstling „Die Verwirrungen des Zöglings Törleß“ (1906) bis zu seinem Jahrhundertroman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930/33).
Akribische Recherche
Mit 79 Jahren hat der langjährige Literaturchef des Hessischen Rundfunks sein nunmehr viertes Grundlagenwerk über den österreichischen Schriftsteller vorgelegt, nach einem Bildband (1988), einer monumentalen Biografie (2003) und einem Band mit „Erinnerungen an Robert Musil“ (2010).
Karl Corino: „Von der Seele träumen dürfen“. Nachträge zur Biografie und zum Werk Robert Musils. Königshausen & Neumann, Würzburg 2022, 794 Seiten, 78 Euro
Ausgestattet mit dem Gedächtnis eines Elefanten und der Beharrlichkeit eines Bibers, trägt Karl Corino seit über 50 Jahren akribisch alles zusammen, was sich an Zeugnissen oder Bildmaterialien über den 1942 im Schweizer Exil gestorbenen Autor noch finden lässt. Und füllt dabei beharrlich eine biografische oder literarische Leerstelle nach der anderen.
Das hat ihm schon manchen Spott eingebracht. Etwa den Roger Willemsens, der sich seinerzeit darüber mokierte, dass man bei Corino noch die Schulzeugnisse von Musils Mitschülern studieren könne.
Doch zeigt sich immer wieder, wie scheinbar abseitig Biografisches oder Triviales in den Werken dieses Schriftstellers auf verschlüsselte Weise wieder auftaucht und wie sehr in den Texten dieses Autors alles mit allem vernetzt ist: wie der Duft des Chinchillapelzwerks von Musils Mutter, eine prägende olfaktorische Erinnerung laut Musils Tagebuch, die Corino in dem Gedicht „An ein Zimmer“ wiederentdeckt.
Die rätselhafte Miss Greevish
Im neuen Buch gelingt es dem Forscher zum Beispiel, die rätselhafte Miss Greevish aus Musils Tagebuch zu identifizieren, eine frühe Geliebte, die sich, Online-Datenbanken sei Dank, als Gesangsstudentin aus Chicago entpuppte. Oder er findet eine Antwort auf die Frage, die den kleinen Robert jahrelang quälte: Wie nahe kamen sich seine Mutter Hermine und ihr vom Vater geduldeter Hausfreund Heinrich Reiter wirklich?
Die Antwort: ziemlich nahe; Corino kann anhand der erhalten gebliebenen „Kur- und Fremdenlisten“ aus Bad Aussee nachweisen, dass die beiden mehrmals gemeinsam in Badehotels logierten, während Vater Alfred in den Bergen wanderte. Auch das ist mehr als posthume Bettenschnüffelei: Die Frage nach der Treue der Mutter und die Gegenwart des „Onkels“ sind zentrale Motive in Musils Novelle „Tonka“.
Und der Nachweis, dass sich Musil, einem erst im Herbst 2020 aufgetauchten Dokument zufolge, bei Kriegsausbruch im August 1914 nicht freiwillig gemeldet hat, sondern einberufen wurde, relativiert immerhin etwas seine damalige Kriegsbegeisterung. Schon immer hatte die Musil-Forschung eine Nähe zur Detektivarbeit, erinnert Karl Corino: Sein Mentor Karl Dinklage entdeckte seinerzeit das Geheimnis um Musils frühe Syphiliserkrankung, als er ein geschwärztes ärztliches Bulletin von 1916 unter die Quarzlampe der Wiener Kripo hielt.
Und beim Restaurieren eines Mantels von Musils Ehefrau fielen aus dem Futter ausgeschnittene Passagen aus Musils Tagebuch, intime Zeugnisse ihres Ehelebens, die Martha Musil dort vor der Nachwelt versteckt hatte.
Musil als Weltkriegsoffizier
Auf fast 800 Seiten versammelt Corinos neues Buch über 40 Aufsätze und Essays, die zuvor zum Teil verstreut in Zeitungen oder Fachzeitschriften erschienen sind, und liefert dazu noch einen wahren Schatz an neu gefundenem Bildmaterial, etwa über Musils Zeit als Weltkriegsoffizier.
Thematisch orientierte Arbeiten, etwa über das Verhältnis des Autors zur Musik oder zum Sport (wie zeitgleich Kafka interessierte sich Musil für die damals neuen Techniken des Bodybuildings), bieten dabei einen leichteren Zugang zu diesem als „schwierig“ geltenden Autor als Corinos Biografie.
Die Kehrseite der Sammlung ist allerdings, dass es etliche Überschneidungen und Wiederholungen zentraler Lebensaspekte gibt, wie Musils Entdeckung der „taghellen Mystik“ im Jahr 1900 aus unglücklicher Liebe zu einer „Valerie“, die inzwischen als die Münchner Pianistin und Bergsteigerin Valerie Hilpert identifiziert wurde.
Doch zurück zur Frage nach dem Verhältnis von Realität und Fiktion: Gleich zwei Aufsätze widmen sich Moosbrugger, dem wahnsinnigen Prostituiertenmörder, der in Musils am Vorabend des Ersten Weltkriegs spielendem Roman nicht nur die Wiener Gesellschaft, sondern auch den Protagonisten Ulrich fasziniert und vor Gericht zu einem Grenzfall für die Frage der Zurechnungsfähigkeit wird. Dass Musil diesen „Lustmörder“ nicht etwa erfunden, sondern der Wirklichkeit entnommen hat, wäre ohne Corinos Beharrlichkeit vielleicht bis heute unbekannt.
Der reale Täter
Denn nur er nahm den Autor beim Wort, der in seinem Roman explizit geschrieben hatte, sein Held habe über Moosbruggers Tat und Prozess „bloß in der Zeitung“ gelesen. Schon in seiner Musil-Biografie von 2003 konnte Corino nachweisen, dass Moosbruggers reales Vorbild der oberfränkische Zimmermann Christian Voigt war, der 1910 in Wien eine Prostituierte ermordet hatte und nach seinem Todesurteil vom Kaiser zu lebenslangem Kerker begnadigt worden war.
Musil hatte zahlreiche Einzelheiten über Voigt, teils sogar wörtlich, für seinen Roman aus der Presse übernommen, bis hin zu den sibyllinischen Worten, mit denen sich Voigt aus dem Gerichtssaal verabschiedete: „Dadurch, dass ich die Anklage erzwungen habe, bin ich mit dem Beweisverfahren zufrieden. Ich bin damit [mit dem Todesurteil] zufrieden, wenn ich Ihnen auch gestehen muss, dass Sie einen Irrsinnigen verurteilt haben!“
In seinem neuen Buch rekonstruiert Corino nun das weitere Leben Christian Voigts. Es ist die abenteuerliche Geschichte einer ganz und gar unwahrscheinlichen Resozialisierung.
Die fast 20 Jahre seiner Einzelhaft nutzte Voigt, um sich autodidaktisch zu bilden und um seine Begnadigung zu kämpfen, auch mithilfe sozial engagierter Journalisten, die aus dem geläuterten Mörder einen der prominentesten Häftlinge Österreichs machten. Ausgerechnet 1930, dem Jahr, in dem Musils Roman erschien, wurde Voigt tatsächlich begnadigt; 1938 starb er als verheirateter Zimmermann in Nürnberg.
Und Musil? Der steckte mit seinem Fragment gebliebenen Roman bis ans Ende seines Lebens in der Vorkriegszeit fest; nichts deutet darauf hin, so Corino, dass er das weitere Schicksal von Voigt/Moosbrugger auch nur verfolgt hätte.
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