Buch über Natur in der Stadt: Was die Wurzeln wissen
Die Natur zu beherrschen, davon hat jede Zeit ihre eigenen Vorstellungen. Das verhandelt ein Buch am Beispiel von Berlins ältestem Park.
Die Stadt ist ein Dschungel. Füchse nisten sich zwischen Beton und Kanaldeckel ein, in der Brache neben dem Schloss, wo bald die Bauakademie wieder aufgebaut werden soll, sind die Birken schon zu einem engen Dickicht verwachsen. Alles wuchert und wimmelt. Vor allem im Tiergarten. Denn die Parkanlage mit einer Fläche von 210 Hektar ist seit Jahrhunderten ein lebendes, bebendes Biotop.
Die beiden Architekt:innen Sandra Bartoli und Jörg Stollmann sehen diese grüne Insel in Berlin als einen Spiegel der vielschichtigen Zusammenhänge von Natur, Mensch, Technik, Denkmal und gebauter Umwelt. Mit ihrer Publikation „Tiergarten, Transgressing Landscape (This Obscure Object of Desire)“ haben die beiden eine diverse Aufsatzsammlung zusammengestellt. Sie verhandelt an diesem ältesten Park Berlins, was Stadt in einer Gegenwart sein kann, in der sich gerade die Grenzen zwischen Zivilisation und Wildnis auflösen.
Dass der Tiergarten mit seinen barocken Anlagen und dem Landschaftsgarten auf eine Zeit zurückgeht, in der die Natur noch als beherrschbar begriffen wurde, arbeitet die Architekturistorikerin Alessandra Ponte heraus. Sie zieht Verbindungslinien zwischen den Berliner Gebrüdern Humboldt zu André und Gabriel Thouin, die in Frankreich auf der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert mit landwirtschaftlichen Experimenten das Klima und ganze Ökosysteme als einen gestaltbaren Gegenstand begriffen.
Von pinkelnden Hunden lernen
„Tiergarten, Landscape of Transgression (This Obscure Object of Desire)“. Hrsg. von Sandra Bartoli & Jörg Stollmann. Park Books, 2019, 29 Euro
Doch der Verwissenschaftlichung und Nutzbarmachung des Raums entzieht sich die Natur letztlich wieder. Ponte stellt dies am Beispiel von Karl von Uexküls Beobachtungen pinkelnder Hunde im Hamburger Zoo dar. Es sind domestizierte Tiere in einer künstlichen Umgebung, und sie schaffen sich dennoch ihre eigene duftende Hunde-Umwelt, in die wir als Menschen nicht eintreten können. Uexküls Hundepisse-Kartografie aus den 1930er Jahren ist vielleicht so etwas wie eine frühe Miniaturstudie zum Anthropozän.
Der Begriff des Anthropozän fällt im Buch erstaunlicherweise nicht. Dennoch gruppieren sich viele der 15 Beiträge um das Phänomen, wie sich Menschengemachtes und Natur zu einem neuen biologischen System verschränken. Die düster-vernebelten Fotoessays, in denen Elisabeth Ficelli pink blühende, eigentlich gar nicht in Mitteleuropa heimische Rhododendren unter gigantischen Buchen ablichtet oder Christopher Roth einen streunenden wie träumenden Hund auf den algenbedeckten Parksee blicken lässt, zeigen den Tiergarten als einen Ort, an dem Künstliches und Natürliches wieder zu einem eigenen biologischen Kosmos ineinander gewachsen sind.
Auch weil dieser enorme Park seit seiner Wiederaufbereitung nach dem Krieg von Willy Alverde in den 1950er Jahren lange dem Wildwuchs überlassen wurde, wie Sandra Bartoli in ihrem Aufsatz betont. In ihrer Wiederaneignung des Menschengemachten folgt die Natur jedoch keiner einheitlichen Logik, sondern besteht letztlich aus einer Vielzahl von Intelligenzen. Der Biologe Stefano Mancuso berichtet von der Individualität der Pflanzen, ihrer Anpassungsfähigkeit in urbanen Gebieten, ihrer Sprache durch ein fein sensorisches Wurzelwerk.
Was sich Singvögel erzählen
Singvögel hingegen, beschreibt der Geograf Chris Wilbert am Beispiel von Nachtigallen bei London, entwickeln ein Narrativ um einen Ort, um ihn zu kolonisieren und ihm dann aber lange treu zu bleiben. Flora und Fauna rücken durch die jüngsten Forschungen näher an uns heran, auch in ihnen erkennen wir Gesellschaften und Individuen.
Und so fordert der Philosoph und Künstler Fahim Amir in seinem Aufsatz über die erstaunliche Existenz von Termiten in Hamburg, die vor über 100 Jahren mit den Kolonialschiffen aus Namibia in die Hafenstadt kamen und sich in den unterirdischen Kabel- und Heizleitsystemen einnisteten, die Trennung von Natur und Zivilisation total zu überwinden. Stattdessen solle man ein Verständnis von der Welt der vielen Spezies mit flüssigen Identitäten entwickeln.
Den Tiergarten hat sich auch die Stadtbevölkerung angeeignet. Es sind nicht die angelegten Orte wie das kürzlich rekonstruierte Venusbecken, an denen die Leute grillen, cruisen, Yoga machen oder ihre Kinder in den Waldkindergarten schicken, sondern es sind die Orte der Wildnis, die als Freiräume wahrgenommen werden.
Vernachlässigung als Empowerment. Sandra Bartoli fordert für die Stadt daher Orte des Zerfalls, wo Pflanzen, Tiere, Mensch und Gebautes sich selbst überlassen sind. Die Bauakademie sollte also besser nicht wiederaufgebaut werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!