Buch über Islamismus: Fünf Generationen Hass
Seit drei Jahrzehnten verfolgt der Journalist Asiem El Difraoui die Entwicklung des internationalen Dschihadismus.
„Wir haben es heute bereits mit der fünften Generation von Dschihadisten zu tun“, schreibt Asiem El Difraoui in seinem Buch „Die Hydra des Dschihadismus“. Die Hydra, das Ungeheuer aus der griechischen Sage, dem selbst Herkules nicht beikommt, als Symbol für die unterschiedlichen Auswüchse des globalen Dschihadismus: Schlägt man der Hydra einen ihrer vielen Köpfe ab, wachsen gleich mehrere nach.
Auf die militärische Niederlage der Terrormiliz „Islamischer Staat“ in Syrien und Irak – Difraoui nennt ihn wie in der arabischen Welt Daesch – folgte neuer Terror, andere wütende Organisationen in Afrika, dem Sahel, Indonesien und Afghanistan.
Asiem El Difraoui: „Die Hydra des Dschihadismus. Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 367 S., 24 Euro
Difraouis Buch über „Entstehung, Ausbreitung und Abwehr einer globalen Gefahr“ ist ein kompetentes, gut geschriebenes Sachbuch mit Analysen, Reportagen, historischen Fakten. Der bekannte Autor und Dokumentarfilmer arbeitet seit Jahren zum Thema. Der in Offenbach am Main aufgewachsene Sohn einer Deutschen und eines Ägypters ist Kenner der arabischen Welt und der Muslime in Europa.
Seine Analysen sind differenziert und kenntnisreich, seine Recherchen und Reportagen aus Syrien und dem Irak spannend und ungewöhnlich. Sie vermitteln ungewöhnliche Einblicke – wie auch seine Begegnungen mit Protagonisten aus dem Zentrum der Dschihadisten.
Zwiespältige Rolle des Westens
Etwa Afghanistan, das in den 1980er und 90er Jahren Spielwiese für eine dschihadistische Internationale und den Medienstar Osama bin Laden war, dem Anführer des Terrornetzwerks al-Qaida. Die Brutstätte des IS war der sich auflösende Irak nach dem Sturz des Diktators Saddam Hussein. Difraoui beschreibt auch die zwiespältige Rolle des Westens, ob im Irak oder während des Bürgerkriegs in Syrien, wo die moderaten syrischen Rebellen vollständig auf sich gestellt blieben.
Den Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 sieht er als Brückenkopf der Dschihadisten nach Europa. Die Präsenz und Gräueltaten der Dschihadisten aus vielen arabischen Ländern im Bosnienkrieg seien bis heute wenig beleuchtet.
Die Muslimbüder und den Wahhabismus erklärt Difraoui zu religiösen Wegbereitern des Dschihadismus. Aber eigentlich definiert er den Dschihadismus als pseudoreligiöse Sektenbewegung, die den Islam vereinfachend und falsch für ihre Zwecke interpretiert.
Doch wie erklärt sich dessen Attraktivität für die Verführten aus aller Welt? Was sind seine gesellschaftlichen und individuellen Ursachen? Difraoui zeichnet die Lebenswege von Dschihadisten nach, auch von Frauen. Ausgrenzerfahrung, Aufbegehren, Suche nach Anerkennung, aber auch der Hang zu pathologischer Gewalt sind Mosaiksteine eines unfertigen Erklärungsversuchs. Religion ist für die meisten vor allem Flucht in eine blindwütige Ideologie.
Weltweite Bedrohung
Und deren Gewaltpotenzial hat sich längst internationalisiert. „Die Propaganda hat den Dschihadismus erst zu dem gemacht, was er heute ist: eine weltweite Bedrohung. Ohne ihre einigende, identitätsbildende Wirkung bestünde er heute vermutlich nicht mehr“, schreibt Difraoui.
Die gewalttätigen Rattenfänger verbreiten ihre Ikonen, Märtyrer und ihren Rap technikaffin über Facebook, Youtoube, Twitter & Co. Doch tatsächlich haben sie außer einer im Wüstensand längst untergegangenen Gemeinschaftsromantik keinerlei eigene Programme für den ökonomischen, sozialen oder politischen Aufbau einer Gesellschaft.
Die Frage, wie westliche, aber auch arabische Gesellschaften mit den selbsternannten Gotteskriegern umgehen könnten, fällt Difraoui genauso schwer wie allen anderen Experten. Repressive, autoritäre Lösungen lehnt er ab. Individuelle Deradikalisierungsprogramme seien sicherlich sinnvoll, genauso wie die Überwachung von Hasspredigern und islamistischen Netzwerken.
Doch der Nährboden für dschihadistische Gewaltfantasien und Gewaltbereitschaft nimmt vor allem in den arabischen Ländern zu: soziale und ökonomische Perspektivlosigkeit schaffen Elend und verstärken die Suche nach pseudoreligiösen Heilsverprechungen. Die Warnrufe in der arabischen Welt werden lauter. Algerien, Libyen, Ägypten, Syrien, der Irak – eine Krise reiht sich an die andere. Keine schlechten Zeiten für das Monster Hydra.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hoffnung und Klimakrise
Was wir meinen, wenn wir Hoffnung sagen
Sport und Krieg in der Ukraine
Helden am Ball
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Das Weihnachten danach
Nachhaltige Elektronik
Ein blauer Engel für die faire Maus
Bodycams bei Polizei und Feuerwehr
Ungeliebte Spielzeuge