Buch „Zeit der Landschaft“: Natur zum Abheben

Jacques Rancière widmet sich in „Zeit der Landschaft“ der Natur im 18. Jahrhundert. Sie war Ressource für Vorstellungen von Unendlichkeit.

Eine gemalte Landschaft mit Felsen, hinter denen ein See verschwindet.

Was geschieht hinter dem Felsen? Landschaftsbild von William Gilpin, um 1746 Foto: CC0, Public Domain

Natur? Das ist jetzt also das „Erdsystem“: geschlossen, selbstregulierend, zusammengesetzt aus physikalischen, chemischen, biologischen und „menschlichen Komponenten“. So die Experten vom International Geosphere-Bio­sphere Programme. Diese Natur ist begrenzt, zugänglich allenfalls über Modellrechnungen, und sie ist gefährdet.

Es war nur eine kurze Weile, dass man Natur betrachten konnte und sie gar ein Gefühl der Unermesslichkeit bescherte. „Wie sehr erweitert sich nicht die ganze Seele, spannet alle ihre Kräfte an, wenn sich die Aussicht auf den Ocean voraus eröffnet“, zitiert Jacques Rancière in seinem großartigen neuen Buch, das jetzt auf Deutsch erschienen ist, den Gartentheoriker Christian Cay Lorenz Hirschfeld.

Ein Zeitgenosse aus dem späten 18. Jahrhundert, der über dem Neuenburgersee die Illusion erfährt, Himmel und See seien spiegelgleich, meinte gar, „im unermeßlichen Raum auf einem kleinen Trabanten“ herumzuschweben. Naturbetrachtung als Raumfahrt. Heute erinnert uns Natur daran, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Damals verhalf sie dazu, sich über die eigenen Verhältnisse zu erheben.

Jacques Rancière: „Zeit der Landschaft. Die Anfänge der ästhetischen Revolution“. Aus dem Französischen von Astrid Bührle-Gallet. Passagen Verlag, Wien 2022, 152 Seiten, 22 Euro

Der französische Philosoph Jacques Rancière ist bekannt für seine fortgesetzten Überlegungen zur Verbindung von Ästhetik und Politik. Angesichts der heutigen Politisierung der Natur kommt es einem Schock gleich, wenn Ranciére, Jahrgang 1940, in „Zeit der Landschaft“ zeigt, dass die Ästhetisierung der Natur im 18. Jahrhundert auf entgegengesetzte Weise politisieren konnte. Natur konfrontierte niemanden mit seinen materiellen Lebensbedingungen, sondern löste von ihnen.

Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter

Was aber bewog die Maler dazu, in ihren erhabenen Landschaften auf einmal Niederrangiges auftauchen zu lassen? Die bescheidenen Hütten des einfachen Volks, Mistkarren, Tierkadaver, schmutzige Arbeiter? Man musste nicht mehr mit beeindruckenden Sujets prunken, antwortet darauf Rancière, es gab eine bessere Weise zu beeindrucken. Man konnte die „Kraft“ malen.

In dem Unscheinbaren auf den Gemälden bekundet sich die Einheit einer Natur „in einem bestimmten Rahmen, über den ihre Kraft aber zugleich hinausreicht. Der Künstler spürt diese Kraft und macht sie spürbar.“

Entscheidend für die Darstellung dieser ominösen Kraft ist ein maltechnischer Kunstgriff, dem Rancière ein eigenes, brillantes Kapitel widmet. Maler wie der englische William Gilpin begreifen: Eine Landschaft, die in ihrer Vollständigkeit daläge, böte der Einbildungskraft keinen Raum. Gleiches gilt für eine umschlossene Landschaft. Man wird deshalb eine Landschaftsgrenze malen, sie allerdings zum Teil verbergen. Eine Seegrenze ist dann stellenweise uneinsehbar, etwa wegen eines hervorspringenden Waldstückchens, dahinter könnte der See weitergehen.

„Es ist nun nicht mehr die Landschaft, die weiter wirkt, als sie es tatsächlich ist“, schreibt Rancière, „vielmehr wird der Geist selbst erweitert.“ Weil sie beflügelten, konnte man diese Landschaftsbilder sogar für das einfache Volk öffnen. Für Rancière hat dies bemerkenswerte politische Implikationen. Denn waren sogar arbeitende und zerlumpte Leute auf einmal würdig, sich auf Gemälden zu tummeln, so vielleicht auch auf der politischen Bühne!

Doch in einem anderen Moment misstraut Rancière seiner eigenen Interpretation: „Die Abstufungen der Gesellschaftsordnungen werden zu den Abstufungen des Lichts auf der Leinwand. Die Verschleierung der Ungleichheit im Erscheinungsbild der Gemeinschaft wird wie das Verbergen der Ränder eines Sees oder der Ursprung eines Wasserfalls behandelt, durch das eine begrenzte Landschaft ihre imaginäre Weite enthält.“

Das ist die unaufgelöste Spannung des Buchs: Die Ungeachteten können auf den Gemälden des 18. Jahrhunderts in Erscheinung treten, aber sind zugleich versteinert, gebannt in lediglich imaginärer Weite.

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