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Buch „Zeige deine Klasse“Scham nach oben

Daniela Dröscher beschreibt in ihrem autobiografischen Essay „Zeige deine Klasse“ ihren Bildungsaufstieg. Inspiriert wurde sie von Didier Eribon.

Bevor der Hut fliegt, bedarf es vieler unangenehmer Momente Foto: unsplash/ JodyHongFilms

Schon bei der Immatrikulation war da diese merkwürdige Unruhe, die sich später in den Seminaren zu echter Nervosität steigerte. Zu Wortmeldungen musste er sich zwingen und versuchen, sich seinen merklich erhöhten Puls nicht anmerken zu lassen. Überhaupt trug er nur etwas zur Diskussion bei, wenn er sich ganz sicher sein und zwei, drei in Gedanken zurechtgelegte Sätze abspulen konnte. Kamen Verständnisfragen, warf er das Handtuch oder brach sich schlicht einen ab.

Noch schlimmer wurde es bei einem Witz, Kommentar oder einem mitleidigen, süffisanten, vielleicht auch einfach nur freundlich zugewandten, von ihm falsch gedeuteten Lächeln des Dozenten, eine Dozentin hatte er nicht. Die Erinnerungen an solche Demütigungen zeitigen noch heute somatische Reaktionen bei ihm. Eine allmähliche Verfertigung des Gedankens beim Sprechen, die er bei anderen beobachtete und beneidete, gelang ihm selten, obwohl er in anderen Kontexten durchaus eine gewisse Eloquenz an den Tag legte.

Ausnahmesituationen wie Referate waren eine nervenaufreibende Tortur, nicht nur, weil er so gut wie keine Übung darin hatte, sondern weil er das tief sitzende Gefühl der Fremdheit nicht loswurde, die sich zur Gewissheit verfestigende Vermutung, nicht hierher zu gehören.

Mit den Jahren verlor sich die Gewissheit ein wenig, die Vermutung blieb. Als er seine Dissertation abgab, befürchtete er, spätestens jetzt werde man ihn überführen. Noch Jahre nach dem Studium suchten ihn gelegentlich Angstträume heim – er allein auf einer Bühne, voller Panik, weil er nicht liefern konnte, was das Publikum von ihm erwartete.

Das Buch

Daniela Dröscher: „Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft“. Hoffmann & Campe, Hamburg 2018. 250 Seiten, 20 Euro.

Dieser Er bin selbstredend ich. Etwas Ähnliches hat aber auch Daniela Dröscher erlebt – und in ihrem autobiografischen Essay „Zeige deine Klasse“ beschreibt sie nicht nur die emotionalen Begleiterscheinungen und Reibungsverluste ihres bildungsbedingten Milieuwechsels, sie versteht sie als durchaus verallgemeinerbare Phänomene.

Dabei gehört sie eigentlich schon zur zweiten Generation und wächst in relativem Wohlstand auf. Den Sprung aus der bäuerlich-proletarischen Klasse ins Bürgertum hatten schon ihre Eltern vollzogen, allerdings fehlte ihnen noch die Selbstverständlichkeit im Umgang mit den bildungsbürgerlichen Insignien – Zeit-, Spiegel- und Theater-Abo, Klassikerbibliothek et cetera.

Mischung aus Narration und Analyse

Daniela Dröscher ist die Erste in ihrer Familie mit akademischer Ausbildung. Aber nicht erst an der Universität erfährt sie, was sie die „Scham nach oben“ nennt. Bereits ihre Schulzeit ist geprägt von kulturellen Minderwertigkeitskomplexen, ihren „drei Ds – dicke Mutter, Dorf, Dialekt“. Skrupulös und mit selbstentlarvender Offenheit illustriert und analysiert Dröscher ihr „Schneewittchen-Syndrom“, dieses Unbehagen, zwei Welten anzugehören und sich in beiden nicht recht heimisch zu fühlen – und gibt auch gern zu, dass sie ohne Didier Eribons „Rückkehr nach Reims“ vermutlich nicht angefangen hätte, darüber zu schreiben.

Sie empfindet Minder-wertigkeitskomplexe wegen der drei Ds – dicke Mutter, Dorf, Dialekt

Das schmälert ihre Leistung überhaupt nicht. Man liest dem Buch an vielen Stellen an, was es die Beteiligten gekostet haben muss – und man weiß im Laufe der Lektüre die Erlaubnis ihrer Eltern, ihre Geschichte erzählen zu dürfen, mehr und mehr zu würdigen. Zugleich gehört es zur literarischen Qualität dieses Essays, dass man sich nicht mehr als nötig zum Voyeur gemacht fühlt und auch selten von den hier offenbarten familiären Innenansichten peinlich berührt wird. Man spürt jederzeit die Notwendigkeit der privaten, ja oft intimen Anekdote als Grundlage für die kleinen und großen soziologischen Wahrheiten.

„Mein milieuspezifischer Habitus brach sich in Form von Überforderung, Perfektion und Ungeduld ungehemmt Bahn. Ein Aufsteigerkind ist anders ungeduldig als der Adelsspross, es ist anders perfektionistisch als das Bürgerkind und anders überambitioniert als ein Arbeiter“, beschreibt sie die Überkompensation ihres Bildungsdefizits. „Immer war da das Gefühl des Zu-SPÄT. Schon immer war es zu spät gewesen. Ich hätte schon immer so viel mehr lernen müssen, als ich jetzt noch lernen konnte.“ Die Mischung aus Narration und Analyse, die unsystematische Methode, die hart an der eigenen Vita entlang erzählt und sich punktuell zu solchen kleinen, aperçuhaften Erkenntnissen verdichtet, macht die Suggestivität dieses Essays aus.

„Hug the rich“

Seine bisweilen fast schon collagenhafte Heterogenität wird noch unterstrichen durch die formale Unruhe. Sie streut immer wieder aphoristische Zitate von Eribon, Bourdieu, Flaubert, Eva Illouz und anderen ein, setzt außerdem viele Fußnoten und integriert Listen. Nicht immer sind die wirklich funktional. Gerade in den Fußnoten stehen bisweilen Schlussfolgerungen, die in den Haupttext gehört hätten, und nicht selten auch bloße Rüschenstickereien, die allenfalls die Funktion haben, Belesenheit oder intellektuelle Satisfaktionsfähigkeit auszustellen. Fast wirken sie wie ein weiteres Symptom ihres Komplexes, wie ein streberhafter Versuch, dem bildungsbürgerlichen Über-Ich zu gefallen.

Am Ende ihres Essays spekuliert Dröscher­ noch etwas ins Blaue über die Skills, die sich Bildungsaufsteiger mühsam erarbeitet haben und die nun bitte schön auch gesellschaftlich nutzbringend sein sollen. Ihrer Meinung nach gehört dazu eine besondere „soziale Beweglichkeit“, die Fähigkeit also, „Menschen unterschiedlicher sozialer und kultureller Herkunft freimütig und respektvoll“ begegnen zu können. Sie leitet daraus eine Vermittlerrolle ab, die gerade die solchermaßen Sozialisierten bei der Befriedung der Klassengegensätze spielen könnten. Dahinter steckt ihr Traum einer klassenlosen Gesellschaft. „Der Klassenkampf könnte mit einer Umarmung beginnen“, postuliert sie. „Nicht mit der Forderung nach Enteignung. Nicht eat the rich – hug the rich.“ Aber Träumen ist ja bekanntlich erlaubt.

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