Buch „Die Frau des Croupiers“: Wo bleibt Otto Jägersberg?
In den Sechzigern war er fast berühmt, dann war die öffentliche Aufmerksamkeit weg. Doch er schrieb weiter. Eine Empfehlung, diesen Autor zu lesen.
Als Otto Jägersberg Anfang der Sechziger mit der deutschen Literatur eine Liaison einging, da weitete sich die Realität, wie immer bei großen Liebesgeschichten, ins Märchenhafte.
Jägersberg selbst hat die Anekdote, wie er zu seinem Verlag kam, als abgründiges Betriebsmärchen erzählt. Als Helfershelfer bei V.O. Stomps legendärer kleiner Eremitenpresse treibt er sich auf der Frankfurter Buchmesse herum.
Anfang der Sechziger darf man als Junggenie sogar noch ein Buch in spe mit sich führen – heute steht darauf sofortige Exkommunikation.
Damals aber interessiert sich eine Berliner Vertreterin für das Manuskript und nimmt es mit, „aber nicht nach Berlin, nur um einige Ecken rum, in so eine dunkle Koje, wo sie liegenließ, was sie mir abgenommen hatte, und dann nach Berlin fuhr. Am Wurststand sah ich einen Mann, der Wurst aß neben einer Dame, der Mann aß die Wurst mit den Fingern und sah ungesund, aber fröhlich aus, er wischte seine fettigen Finger auf einem Umschlag ab, in dem das war, was die Berliner Dame mir abgenommen hatte.“
„Weihrauch und Pumpernickel“
Es kommt alles, wie es kommen muss. Zwei „ungewöhnlich blasse Jugendliche“ besuchen ihn bei der Eremitenpresse, nehmen ihn mit, „nur einige Ecken rum, in so eine dunkle Koje. Der Mann war da, der so fröhlich Wurst gegessen hatte, er gab mir die Hand und zu trinken, schwieg und sah unverständlich fröhlich aus. Er trank weniger als ich, dafür war er auch unrasiert. Seinem Schweigen war zu entnehmen, dass er das, was die Berliner Dame mir abgenommen hatte, zu einem Handelsobjekt machen wollte. Später erfuhr ich, dass der Mann Schweizer Bürger ist und dass Schweizer eine andere Sprache sprechen.“
Der unrasierte Halbtemperenzler ist Daniel Keel, der Diogenes-Chef, und Jägersbergs Buch „Weihrauch und Pumpernickel – ein westpfählisches Sittenbild“, das 1964 erscheint, eines dieser Debüts, das zwar nicht von deutschen Kultusministerien kanonisiert, aber auch so von den richtig gebildeten Ständen durch die Jahrzehnte gereicht, im Grunde also doch kanonisiert wurde.
Es besaß diese gewisse Aura, selbst wenn man es nicht gelesen hatte, wusste man immer, es gibt da noch Otto Jägersbergs „Weihrauch und Pumpernickel“.
Nicht ganz unschuldig daran ist Arno Schmidt, dem Keel ein strategisches Vorabexemplar zukommen lässt. Jägersberg erweist ihm darin nämlich nicht nur gelegentlich stilistisch seine Reverenz, er erwähnt ihn als so eine Art Schutz- und Schirmherr des Buches sogar namentlich. Und der so Angehimmelte reagiert wie gewünscht. „Das Buch verdient unbedingt, gedruckt zu werden“, schreibt er Keel am 25. Juni 1964. „So viel gewandter Derbheit müsste es eigentlich gelingen können, eine empfindliche Lücke auszufüllen, und das literarisch nicht erfasste – korrekter: sich gegen eine Erfassung sträubende! – Landvolk mit modernen Mitteln abzubilden.“
„Nette Leute“
Bekanntlich hielt Schmidt nicht gar so viel von der zeitgenössischen Literatur. Martin Walser und Ernst Kreuder etwa watschte er ziemlich ab, da kannte er keine Freunde. Von den Jüngeren ist er eigentlich nur Peter Rühmkorf und Hans Wollschläger mit vergleichbarer Sympathie begegnet.
Ein Auftakt also, wie ihn sich ein 22-jähriger Autor nur wünschen kann. Die Kritik zeigt sich ebenfalls enthusiasmiert über den „barocken Erzählschwall“ dieses „westfälischen Rabelais“. Das Buch verkauft sich ziemlich gut.
Aber schon sein zweiter Roman „Nette Leute“ markiert einen Bruch. Er beschreibt hier einen nicht mehr burlesken, sondern banalen Tag im Leben eines Lexikonvertreters, der nach vielem Warten und Reden am Ende doch noch einen Abschluss tätigt.
Die Kritik ist ein bisschen enttäuscht von Jägersbergs plötzlichem Reduktionprogramm. Nur ein einziger Handlungsstrang, liebevoll minutiös erzählt zwar, aber bloß nette Leute, ohne den kraftgenialischen Zugriff des Vorgängers. Auch das Lesepublikum greift nicht mehr so zu wie noch bei „Weihrauch und Pumpernickel“.
„Am Tresen“
Jägersberg muss Geld verdienen, eine kurze Zeit macht er bei Jörg Schröders März-Verlag mit, geht dann zum WDR, führt Regie und schreibt vornehmlich fürs Fernsehen.
Das Stehgreifspiel „Am Tresen“, in dem die Protagonisten 14 Folgen lang in einer Dortmunder Eckkneipe die privaten und oftmals auch aktuellen politischen Weltprobleme lösen, kann er dort realisieren, Filmessays wie „Lockerungsübung für Revolutionen. Zürich 1916: Lenin, Joyce, Dada“ und diverse Fernsehspiele mit didaktischem Anspruch und tadelloser linker Gesinnung.
Sein größter Erfolg wird die zusammen mit Michael Lentz geschriebene 13-teilige Serie „Die Pawlaks“ von 1982, die das Schicksal einer Gastarbeiterfamilie aus Masuren im Ruhrgebiet der 1870er Jahre beleuchtet. Ein aufwendig produziertes Sozialgeschichtsepos, das ein authentisches Bild vom harten Alltagsleben der Zechenkumpel mit ihrem Anhang zu liefern versucht, zugleich ein Lehrstück über die gelingende Integration von Migranten.
Jägersberg hat weiterhin Bücher veröffentlicht, Drehbücher, Materialienbände zu den filmischen Arbeiten, 1983 auch noch einen weiteren Roman, „Herr der Regel“. Ein perfides Panorama einer schwäbischen Krämerseelengemeinde – Baden-Baden, wo sich Jägersberg nach Jahren in Berlin, Frankfurt, Zürich, München und Münster schließlich mit Frau und zwei Kindern niedergelassen hat und wo er bis heute lebt.
„Keine zehn Pferde“
Hier wirkte auch sein Hausheiliger Georg Groddeck, der „wilde Analytiker, Es-Deuter, Schriftsteller, Sozialreformer und Arzt“, den er mit einem Sammelband in die Öffentlichkeit zurückholt und dem er auch in der Folge als Herausgeber einzelner Werke und Mitbegründer der Georg-Groddeck-Gesellschaft verbunden bleibt.
Schon seine Arbeit fürs Fernsehen ist den hauptamtlichen Literaturverwesern suspekt, man verliert ihn ein wenig aus den Augen. Sein Schriftstellerkollege Jürgen Lodemann beklagt 1979 in der Zeit: „Wo blieb Otto Jägersberg?“ Und auf die in der Folge entstehenden Arbeiten, vornehmlich kürzere Prosa und Gedichte, haben die Feuilletons erst recht nicht gewartet.
Er verschwindet unterhalb des Aufmerksamkeitsradars und publiziert seit Ende der Achtziger nur noch sporadisch und meistens in kleinen Verlagen.
Seinem Hausverlag Diogenes erscheint er so vergessen, dass der ihn zum Erscheinen des Gedichtbandes „Keine zehn Pferde“ 2015 als Wiederentdeckung anpreisen zu müssen glaubt.
„Die Frau des Croupiers“
Als überaus komischen, beeindruckend souveränen und stilbewussten Lyriker und Kurzprosaisten müsste man ihn allerdings überhaupt erst mal richtig entdecken. Seine gerade erschienene Prosasammlung „Die Frau des Croupiers“ bietet dafür eine neue Gelegenheit.
Das Schöne an der Genrebezeichnung Prosa ist ja, dass sich so vieles darunter subsumieren lässt. Diese Offenheit nutzt der Autor in vollen Zügen. Erstaunlich, was hier alles Platz hat und vom lapidaren, die größte Katastrophe mit einer knochentrockenen Ungerührtheit kommentierenden und trotzdem nie empathielosen Jägersberg-Ton zusammengehalten wird. Feuilletons, Anekdoten, Collagen, Kalendergeschichten, Tagebuchblätter, historische Skizzen, Minutennovellen, Short Short Stories, Kurzporträts etc. etc.
Jägersbergs Texte sind auf unangestrengte Weise komisch, aber ganz selten Satiren im eigentlichen Sinne. Man merkt ihnen die Absicht nicht an.
Diese Pointen haben so etwas grandios Beiläufiges, als erwüchse das Komische ganz organisch dem Dargestellten beziehungsweise noch öfter der Sprache. Er verlacht nichts.
Oettinger und Jesus
Gut, den Oettinger schon. „Ein Flaggenvorfall wurde jüngst ausgelöst durch EU-Kommissar Oettinger, als er vorschlug, die Flaggen von EU-Schuldenstaaten in Brüssel auf Halbmast zu setzen, und die Vertreter der betroffenen Länder ihm entgegneten, er solle mal lieber seine Unterhose auf Halbmast setzen.“
Und Jesus natürlich. In dem Gedicht „Als Fußballer“ klagt er: „traute mich nie / aufs Tor zu treten / gab den Ball immer ab / anstatt ihn reinzuknallen // In der Zeitung stehen gabs nicht / außer man trat ab / für immer / aber als Torschütze? // Denk an Jesus / Jesus den Angeber / so einen wolln wir / nicht in der Familie.“
Dem Hehren, Großen, Wichtigen wird schon mal ein Haker gestellt und anschließend auch noch mal der Kopf in den Matsch gedrückt, aber meistens geht es Jägersberg um eine von ihrer Agitprop-Funktion weitgehend befreite Komik. Um das Komische als ästhetisches Erlebnis sozusagen.
Bisweilen setzt er auch gar keine richtigen Pointen. Man versteht nicht immer, was eigentlich lustig daran ist, man weiß nur, dass es so ist. Etwa seine zweite „Allerdings“-Variation. „Hörte ein Hörspiel vom Deutschlandfunk und machte es aus, als eine weibliche Stimme: Haun se ma ja nicht so auf die Kacke, sagte, allerdings spielte die Geschichte in Hamm.“
Profane Kleinigkeiten
Das Komische und die kleine Form sind komplementäre Erscheinungsweisen. Auch in der Kürze steckt etwas Subversives, indem sie einerseits das Großkalibrige, Überproportionierte, Pompöse angreift, es gewissermaßen durch den Schredder jagt und andererseits den kleinen Welten, dem Banalen Gehör verschafft.
Jägersberg ist ein Meister darin. Er macht die Dinge nicht kostbarer, als sie sind, lässt die profane Kleinigkeit auch mal so stehen, billigt ihr ein Eigenrecht zu, ohne sie unbedingt aphoristisch zum Leuchten bringen zu müssen.
Otto Jägersberg: „Die Frau des Croupiers“. Prosa. Diogenes, Zürich 2016, 234 S., 20 Euro
Es steckt etwas zutiefst Menschenfreundliches darin. Das Banale ist uns allemal eingeschrieben, wir sollten es achten.
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