Buch „Das Evangelium der Aale“: Die Achtung vor dem Unheimlichen
Autor Patrik Svensson hat ein wunderbares Buch über das mysteriöse Lebewesen Aal verfasst – und verbindet Biologie, Kulturgeschichte und Philosophie.
Viele Menschen ekeln sich vor Aalen. Das kann verschiedene Gründe haben (die Lektüre von Günter Grass’ „Blechtrommel“ ist oft einer davon), hängt aber auf jeden Fall auch damit zusammen, dass das Wesen und Leben des Aals trotz aller menschlichen Forschungsbemühungen bis heute nicht gänzlich verstanden ist.
Dass es Aalen nichts ausmacht, sich an Aas sattzufressen, nimmt man ihnen übel. Dass es Exemplare gibt, die mehrere Menschengenerationen überlebt haben, enthebt die Art auf seltsame Weise dem deterministischen Prinzip der biologischen Vergänglichkeit. Die längste Zeit in der Geschichte der denkenden Menschheit hielt man den Aal nicht einmal für einen Fisch. Das größte Rätsel aber war sehr lange die Frage nach seiner Entstehung, auch „Aalfrage“ genannt.
Erst seit hundert Jahren weiß man, dass alle europäischen und amerikanischen Aale aus der Sargassosee stammen, wohin sie zum Sich-Paaren und Sterben auch wieder zurückkehren. Auch diese Erkenntnisse gründen sich letztlich aber nur auf Indizien. Denn bis heute hat niemals jemand einen erwachsenen Aal, tot oder lebendig, in der Sargassosee gesehen. Die privatesten, existenziellsten Teile des Aalseins – Fortpflanzung, Entstehung und Tod – entziehen sich nach wie vor menschlicher Beobachtung.
Seine Unergründbarkeit macht den eigentümlich geformten Fisch zu einem Faszinosum. Der schwedische Autor Patrik Svensson, der bereits als Kind an der Seite des Vaters Aale geangelt hat, leistet nun mit seinem außergewöhnlichen Buch bahnbrechende Arbeit für das Aal-Image. In einem Kapitel zieht er das deutsche Adjektiv „unheimlich“, für das es im Schwedischen keine echte Entsprechung gebe, heran, um die Wirkung des Aals auf den Menschen zu beschreiben.
Patrik Svensson, „Das Evangelium der Aale“, übersetzt aus dem Schwedischen von Hanna Granz, Carl Hanser Verlag, München 2020, 256 Seiten, 22 Euro
Ekel wird zu Achtung
Zu den Verdiensten von Svenssons Buch gehört es tatsächlich, eventuelle Ekelgefühle umwandeln zu können in eine andere Empfindung, die sich vielleicht am ehesten mit Achtung vor dem Unheimlichen umschreiben ließe.
Svensson arbeitet als Kulturjournalist für eine große schwedische Tageszeitung, „Das Evangelium der Aale“ ist sein erstes Buch. Er bekam dafür im letzten Jahr den bedeutendsten schwedischen Literaturpreis, den August-Preis, in der Kategorie Sachbuch.
Es ist ein recht außergewöhnliches Sachbuch, und es nähert sich seinem Thema von vielen verschiedenen Seiten. Nicht der Aal an sich ist dieses Thema, sondern vielmehr der Aal in seinem Verhältnis zu Menschen. Als „Kulturgeschichte des Aals“ wird Svenssons Buch gern bezeichnet, was der Sache sehr nahe kommt, sie aber auch nicht ganz trifft.
Von Aristoteles bis zu Mondini
In chronologischer Abfolge erzählt es zunächst von den sehr langen Forschungsbemühungen um den Aal, angefangen bei Aristoteles, der auch darüber etwas zu sagen hatte und überzeugt war, dass der Aal geschlechtslos sei und wie ein Wunder aus dem Nichts beziehungsweise dem Schlamm entstehe. So unwahrscheinlich das war, konnte es doch erst viel später widerlegt werden. Ende des 18. Jahrhunderts gelang es dem Italiener Carlo Mondini endlich, die Eier des Aalweibchens zu entdecken.
Das wohl größte Verdienst um die Aalforschung kommt dem Dänen Johannes Schmidt zu, der praktisch sein gesamtes Erwachsenenleben der Aalfrage widmete und viele, viele Jahre lang die Weltmeere nach Larven abfischte. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts konnte er endlich die Herkunft sämtlicher Aallarven aus der Sargassosee gesichert belegen.
Es scheint ein großes Wunder zu sein: Noch im Larvenstadium legen die winzigen werdenden Aale eine Tausende Kilometer lange Reise über das Meer zurück, um sich, an Europas Küsten angekommen, offenbar zufällig in die verschiedenen Wasserwege zu verteilen (alle europäischen Aale sind genetisch einigermaßen identisch). Nach ihrer Ankunft werden sie zum Glasaal, um sich später, nachdem sie ein Gewässer zur Heimat erwählt und sich niedergelassen haben, zum Gelbaal weiterzuentwickeln.
Auch dieser ist aber lediglich ein Fisch-Teenager vor der Geschlechtsreife. Aale können ewig, genauer ihr ganzes Leben lang, dessen Dauer äußerst unterschiedlich ausfallen kann, in diesem Backfisch-Stadium verharren. Zum Blankaal, also zum ausgewachsenen, geschlechtsreifen Fisch zu werden, bedeutet, sich auf den Weg zurück in die Sargassosee machen zu müssen. Dort – aber das, wie gesagt, ist der Teil, den man sich immer noch denken muss – paaren sich die Aale und sterben.
Freud und die Aalforschung
Einer, der sich ebenfalls mal in der Aalforschung versuchte, war der junge Sigmund Freud, der 1876, mit 19 Jahren, einen Monat in Triest verbrachte, dort in einem Labor saß und einen adriatischen Aal nach dem anderen sezierte, um endlich auch ein männliches Exemplar des rätselhaften Fisches zu finden. (Denn immer noch war ungeklärt, wie genau der Aal sich vermehrt.)
In seiner Freizeit schrieb der Jüngling Briefe, in denen er sich über die hässlichen und zu stark geschminkten Triester Frauen beschwerte. Und auch die Suche des ehrgeizigen Studenten nach den männlichen Geschlechtsorganen des Aals blieb erfolglos.
Inwieweit Freuds freudloses Triester Intermezzo zum späteren Entstehen der Psychoanalyse beitrug, lässt Svensson offen, bietet aber unaufdringlich Möglichkeiten zur fantasievollen Spekulation an.
Es ist überhaupt das Schönste an diesem Buch, wie mühelos alles ineinandergeht. Nicht nur auf die Aalforschung der Biologen geht der Autor ein, sondern auch auf den Aal in Literatur, Kunst, Mythologie und Religion. Besonders erstaunliche Fälle von langlebigen gefangenen Aalen erzählt er, darunter den eines Aals, der, wie der Volksmund behauptete, seit 1859 in einem Brunnen in Schonen lebte und im Jahr 2009 tatsächlich von einem schwedischen Fernsehteam dort gefunden wurde.
Der Aal als mächtiger Dämon
Die alten Ägypter hielten den Aal für einen mächtigen Dämon, „den Göttern vergleichbar“, und auch Svensson deutet an, dass er selbst, obwohl sonst dem Metaphysischen gegenüber prinzipiell ungläubig eingestellt, im Falle des Aals „nicht so sicher“ sei.
Diese vorsichtige Einschätzung teilt er mit seinem Vater, einem früh verstorbenen Asphaltarbeiter und passionierten Aalangler, dessen Geschichte eine Art zweiten Erzählstrang bildet. Episodenhafte Bilder von gemeinsamen Angelerlebnissen blitzen zwischendurch auf, nach und nach ergänzt durch autobiografische Bruchstücke aus der Familiengeschichte der Svenssons.
Sie endet im Buch vorerst mit dem Tod des Vaters. Die Geschichte des Aals, der stets zurück zu seinen Anfängen strebt, wird zum Sinnbild für das Leben des Menschen, das sich erst dadurch vollendet, dass er sich seiner Herkunft bewusst wird und diese als Bestandteil seiner selbst akzeptiert. Und in der geheimnisvollen Undurchschaubarkeit des Aals spiegelt sich gleichsam das Rätsel der menschlichen Existenz.
Die Aale werden weniger
Doch die biologische Geschichte des Aals ist – hoffentlich – noch nicht vorbei. Svensson schreibt allerdings: „Wo in meiner Kindheit jedes Jahr einhundert kleine, durchsichtige Glasrütchen den Fluss hinaufschwammen, tritt heute nur noch eine knappe Handvoll diese Reise an.“
Der Aal droht auszusterben. Die Ursachen sind schwer genau zu bestimmen; dass der Mensch Schuld daran trägt – als Verbreiter von Umweltgiften und Verursacher des Klimawandels –, ist aber ziemlich sicher. Es ist gut möglich, dass eines Tages vom Aal nicht mehr bleibt als eine gut dokumentierte Forschungsgeschichte – und dieses wunderbare Buch, das nicht nur die Achtung vor dem unheimlichen Aal fördert, sondern auch Zeugnis ablegt vom ausdauernden menschlichen Bemühen, die Welt und sich selbst zu verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Proteste in Georgien
Wir brauchen keine Ratschläge aus dem Westen
Prozess zu Polizeigewalt in Dortmund
Freisprüche für die Polizei im Fall Mouhamed Dramé
Fall Mouhamed Dramé
Psychische Krisen lassen sich nicht mit der Waffe lösen
Ex-Mitglied über Strukturen des BSW
„Man hat zu gehorchen“
Leben ohne Smartphone und Computer
Recht auf analoge Teilhabe