Buch „Alle Zeit der Welt“: Lob des langen Atems

Wenn alle neun Jahre ein Tropfen fällt: In seinem Buch „Alle Zeit der Welt“ nimmt sich Thomas Girst viel Zeit für lang dauernde Projekte.

Ein Notenblatt mit Titel des Stücks und dem Namen John Cage

Ausschnitt aus dem Notenheft zum John-Cage-Orgel-Kunstprojekt in Halberstadt Foto: Jens Wolf/picture alliance/dpa

Obgleich theoretisch ein eher unwahrscheinlicher Fall: In der Praxis kann wohl nur ein Manager mit dicht getaktetem Terminkalender auf die Idee kommen, ein Buch zu schreiben, das von Menschen handelt, die sich „Alle Zeit der Welt“ nehmen, um ihre Kunstwerke und Experimente zu realisieren oder auch auf- und auszuführen.

Einem Manager mit dicht getaktetem Terminkalender scheint in diesen Geschichten nicht nur die Utopie eines freien Lebens auf, er weiß womöglich besser als andere, wie viele Menschen genau davon träumen oder wenigstens in Buchform davon träumen wollen.

Tatsächlich hat Thomas Girsts schmaler Band „Alle Zeit der Welt“ inzwischen schon seine dritte Auflage erreicht. Ein beachtlicher Erfolg, der viel über die Bedürfnisse der gegenwärtigen Gesellschaft aussagt. Dabei ist Thomas Girsts Buch – weil klar strukturiert und stilistisch gut geschrieben – zwar leicht zu lesen, doch keineswegs schnell zu konsumieren.

Seine Lektüre erfordert Geduld. Denn der Autor, verantwortlich für das internationale Kulturengagement von BMW und, wie die Kurzbio im Buch informiert, ehemals Kulturkorrespondent der taz in New York, schweift in seinen essayistischen Überlegungen auch mal weit ab.

Thomas Girst: „Alle Zeit der Welt“. Hanser Verlag, München 2019, 204 Seiten, 17 Euro

Das Musikstück, das erst im Jahr 2640 beendet ist

Doch die Frage beispielsweise, wie man kommende Generationen vor unseren radioaktiven Abfällen schützen kann, führt zu Recht zu ganzen Gedankenkaskaden, über zukünftige Lebensstile und heutige Zeichensysteme, die dann womöglich gar nicht mehr greifen. Etwa im Jahr 2619, wenn in Halberstadt immer noch John Cages Orgelstück „Organ2/ASLSP“ zu hören sein wird, das die automatische Orgel seit 2001 aufführt. Der Partitur entsprechend, die alle sieben Jahre einen Klangwechsel vorsieht, soll dies bis ins Jahr 2640 andauern.

Offenkundig übt die lange Dauer an sich eine enorme Faszination aus. Anders ist es nicht zu erklären, dass über 35.000 Menschen weltweit den Videostream vom Pechtropfenexperiment des Physikers Thomas Parnell abonniert haben. Grundstürzend neue Erkenntnisse sind nicht zu erwarten beim Beobachten des zähflüssigsten Stoffs, der bekannt ist.

1927 goss ihn Parnell in einen Trichter mit versiegeltem Ende. Nach dreijähriger Abkühlung entfernte er das Siegel, woraufhin es weitere acht Jahre dauerte, bevor dem Trichter ein erster Tropfen entrann. Der bislang neunte Tropfen fiel im April 2014.

Wann aber hat eigentlich Thomas Girst Gelegenheit, dem zweckfreien oder auch zielgerichteten Sichverlieren im eigenen Tun in aller Welt nachzuforschen? Der exzessiven Inanspruchnahme der Zeit, wenn es sein muss, über Generationen hinweg? Naturgemäß dort, wo auch er mit vielen Stunden freier Zeit rechnen darf. Thomas Girst schrieb „Alle Zeit der Welt“ auf seinen beruflich bedingten Langstreckenflügen. Klüger hätte er dem (An-)Gebot, einmal innezuhalten, nicht begegnen können.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.