Brüssel will Fahrradhauptstadt werden: Höllentrip auf zwei Rädern
Brüssel hat großes vor. Bis 2015 will es Fahrradhauptstadt Europas werden. Konzepte gibt es genug, aber das Geld dafür fehlt. Und die Radlerquote liegt nur bei 4 Prozent.
Brüssel will bis 2015 Fahrradhauptstadt Europas werden. Worauf gründet sich dieser Größenwahn? Darauf, dass der Fahrradanteil am Stadtverkehr innerhalb von zehn Jahren von null auf vier Prozent gestiegen ist? Adelt Brüssel der Umstand, dass jährlich im September kinderreiche Horden aus dem Umland mit Rollern, Dreirädern und Tandems den autofreien Sonntag begehen? Oder macht sich der EU-Kommissionspräsident um die Nachhaltigkeit verdient, wenn er an einem Tag im Jahr zur Arbeit radelt?
Das alles wurde positiv gewürdigt beim Velo-City-Kongress, der im Zweijahresrhythmus Städteplaner, Ökologen und Fahrradfreaks in einer europäischen Stadt zusammenbringt. Vergangene Woche tagten die 800 Teilnehmer auf einem Gelände am Brüsseler Stadtrand, das am besten mit dem privaten Pkw zu erreichen ist. Unter den dort versammelten Experten wurde vor allem der Brüsseler Pioniergeist gelobt, der es Radlern erlaubt, Einbahnstraßen in der Gegenrichtung zu befahren.
Persönliche Erfahrungsberichte hierzu dürften schwer zu bekommen sein, da den Höllentrip in Gegenrichtung wohl kaum ein Radler überlebt. Brüsseler Einbahnstraßen sind schmal und zugeparkt. Steil geht es über löcheriges Kopfsteinpflaster oder aufgeplatzten Asphalt den Hügel hinauf oder hinunter. Wer es andersherum versucht, blickt in die schreckgeweiteten Augen des völlig unvorbereiteten Autofahrers und kann sich bestenfalls in einer Toreinfahrt in Sicherheit bringen.
Brüssels Stadtplaner verfahren nach dem Grundsatz "Sowohl als auch". Statt Straßen für den Autoverkehr zu sperren oder Radwege solide von der Fahrbahn abzutrennen, pinseln sie gern Fahrradpiktogramme auf den Asphalt. Der Radfahrer, der die Hinweise wörtlich nimmt, braucht starke Nerven. Denn der Hass der ewig im Stau stehenden Brüsseler Autofahrer trifft ihn mit voller Wucht.
Ideen für ein fahrradfreundliches Brüssel gibt es genug. Ein Park-and-Ride-System würde die Verkehrssituation verbessern. Wenn der Pendlerverkehr aus der Innenstadt verschwände, wäre Platz für ein sicheres Radwegenetz geschaffen. Doch moderne Konzepte scheitern am Kompetenzgerangel zwischen der Hauptstadtregion und den umliegenden flämischen Gemeinden. Zudem ist Geld chronisch knapp. Die Farbe, mit der Räder auf den Asphalt der Einbahnstraßen gepinselt werden, ist so schlecht, dass Regen und Verkehr nach wenigen Wochen die letzten Spuren beseitigt haben. Das hat auch sein Gutes, weil sonst unerfahrene Radtouristen verlockt sein könnten, den Selbstmordtrip in die Gegenrichtung wirklich anzutreten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
FDP stellt Wahlkampf Kampagne vor
Lindner ist das Gesicht des fulminanten Scheiterns
Paragraf 218 im Rechtsausschuss
CDU gegen Selbstbestimmung von Frauen
Partei stellt Wahlprogramm vor
Linke will Lebenshaltungskosten für viele senken
Wahlkampf-Kampagne der FDP
Liberale sind nicht zu bremsen
Sednaya Gefängnis in Syrien
Sednaya, Syriens schlimmste Folterstätte
Journalist über Kriegsgefangenschaft
„Gewalt habe ich falsch verstanden“