Brückentechnologie und Erderwärmung: Klimawandel überfordert Atomkraft
Atomenergie rettet das Klima nicht, denn AKWs kommen selbst mit hohen Temperaturen nicht klar. Nicht zufällig ist sie bei Atomwaffenstaaten beliebt.
D ie Frage, was für die Menschheit schlimmer ist, der Klimawandel oder die Atomkraft, führt in die Irre. Es ist falsch, die Frage um den Klimawandel auf die Energiegewinnung zu reduzieren. Das Phänomen des Klimawandels ist ein komplexes System, das auf das Überschreiten der ökologischen Belastungsgrenzen der Erde zurückzuführen ist. Forschungsinstitute wie Agora Energiewende sehen fünf Sektoren, in denen Transformation erforderlich ist: Energiewirtschaft, Verkehr, Industrie, Gebäude, Landwirtschaft. Die Diskussion, die Kohlekraftwerke vor den AKWs abzuschalten, lässt sich nur theoretisch führen. Praktisch wäre dieser Umstieg gar nicht möglich: Der Anteil von Atomenergie im Strommix lag 2020 nur bei 12 Prozent, der von Kohle hingegen bei 20 Prozent. Die Energieerzeugung durch Atomkraft auf 32 Prozent zu steigern anstatt die verbleibenden Atomkraftwerke abzuschalten, ließe sich nicht umsetzen. Gleiches gilt für einen poteniellen Wiedereinstieg. Unter anderem haben selbst die Energiekonzerne kein Interesse mehr an einer Laufzeitverlängerung.
Atomenergie und Ökostrom müssten zusammengedacht werden, ist ein weiterer Vorschlag. Doch auch das funktioniert nicht: es handelt sich um zwei Energieversorgungssysteme, die im Stromnetz nicht miteinander kompatibel sind. Atomstrom wird wie Strom aus Braunkohle der Grundlast zugeordnet, eine Strommenge, die 24 Stunden an 365 Tagen im Jahr für den Stromverbrauch zur Verfügung stehen muss. Beide sind schlecht regelbar und am wirtschaftlichsten, wenn sie konstant durchlaufen. Erneuerbare Energien stellen eine flexible Energieproduktion dar; Speicher- und Vernetzungssystem sind variabel und werden je nach Bedarf geregelt.
Da sich AKWs nur langsam hoch- und runterfahren lassen, „verstopfen“ sie mit ihrer permanenten Grundlast das Stromnetz. Das Resultat: Oft stehen Windräder still, obwohl der Wind weht. Eine Studie von Energy Brainpool im Auftrag von Greenpeace Energy hat nachgewiesen, dass mehr als die Hälfte aller Stunden des Jahres 2017 Atomstrom durch die AKWs Brokdorf und Emsland ins Netz gespeist wurden. Gleichzeitig wurden Windenergieanlagen in der Region in erheblichem Umfang abgeregelt; 2,175 Milliarden Kilowattstunden Ökostrom gingen dadurch verloren.
Kohlekraft durch Atomstrom zu ersetzen würde dieses strukturelle Problem im Strommix nicht beheben. Im Gegenteil, es müssten Investitionen in ein veraltetes System fließen statt in den Ausbau der Erneuerbaren. Aber auch aus einem anderen Grund taugt Atomenergie nicht als Brückentechnologie. AKWs müssen regelmäßig infolge von starken Hitzeereignissen und Überschwemmungen vom Netz genommen werden, um einen Atomunfall zu vermeiden. Die Extremwetterereignisse sind mit einer durchschnittlichen Temperaturerhöhung von 1,01°C schon ein Problem. Wenn das 1,5-Grad-Limit gerissen wird und es zu den bekannten Kipppunkten im Klima-System kommt, werden Extremwetterereignisse noch stärker und häufiger.
ist promovierte Medizinerin und Co-Vorsitzende der deutschen Sektion der Internationalen Ärzt*innen für die Verhütung des Atomkrieges/Ärzt*innen in sozialer Verantwortung e. V. (IPPNW) sowie Präsidentin der IPPNW Europa. Ihr Schwerpunktthema ist die zivil-militärische Nutzung von Atomenergie.
Wir brauchen deshalb Energieträger, die hohen Temperaturen gewachsen sind. Atomkraftwerke benötigen jedoch für die Kühlung enorme Mengen an Wasser – je nach Reaktormodell zwischen 2 und 61 Kubikmeter, also Tonnen an Wasser pro Sekunde. Sinkt der Wasserpegel der Flüsse aufgrund extremer Trockenheit oder langanhaltender Dürren, reicht die Wassermenge nicht aus und betroffene Reaktoren müssen gedrosselt oder abgeschaltet werden. Das ist bereits regelmäßig in Frankreich der Fall. Sind die Wassermengen zwar noch ausreichend vorhanden, die Wassertemperaturen allerdings zu hoch, ist das Ergebnis das Gleiche: im August 2018 mussten wegen der hohen Temperaturen der Rhône und des Rheinseitenkanals die Reaktoren in Bugey, Saint-Alban sowie Fessenheim gedrosselt und abgeschaltet werden. Im gleichen Sommer waren Reaktoren in Schweden und Finnland betroffen.
Um das 1,5-Grad-Limit einzuhalten, sind die nächsten zehn Jahre entscheidend. Der Bau eines AKWs dauert im Schnitt fünf bis 17 Jahre. Seit dem Jahr 2000 gingen lediglich 42 GW Atomstrom ans Netz, rechnet man die Stilllegungen dazu kommt man nur auf 17 GW. Dem stehen 716 GW Wind und 707 GW Solarstrom gegenüber. Hinzu kommen die enormen Kosten für den Bau von AKWs. Auch dass die eigentlichen CO2-Emissionen von Atomenergie sogar höher sind als die von modernen Windkraftanlagen, wird in vielen Studien verschwiegen. Von den katastrophalen Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf unsere Gesundheit ganz zu schweigen.
Doch all diese Argumente scheinen bestimmte Staaten auf der Welt nicht zu interessieren. Die meisten AKWs stehen in den Ländern der Nordhalbkugel: 94 AKWs in den USA, 56 in Frankreich und 49 in China. Alle drei Länder sind Atomwaffenstaaten. Diese Beobachtung verweist auf einen Aspekt, der regelmäßig ausgespart bleibt: Der Zusammenhang zwischen Atomkraft und Atomwaffen. Diesen unterstrich der französische Präsident Emmanuel Macron bereits 2020: „Ohne zivile Atomenergie gibt es keine militärische Nutzung der Technologie – und ohne die militärische Nutzung gibt es auch keine zivile Atomenergie.“ Im Klartext heißt das: Um das Atomwaffenarsenal weiter ausbauen und modernisieren zu können, ist Frankreich auf Quersubventionen durch den zivilen Sektor angewiesen.
Auch der US-Thinktank Atlantic Council beschreibt die Notwendigkeit der zivilen Nutzung der Atomenergie für die nationale Sicherheitspolitik ganz offen: „Die zivile US-amerikanische Atomindustrie bildet ein strategisches Anlagegut von lebenswichtiger Bedeutung für die nationale Sicherheit der USA.“ Allen neun Atomwaffenstaaten ist deshalb an dem Erhalt von Atomkraftwerken gelegen – aller wirtschaftlichen Defizite, klimaschädigenden Auswirkungen und gesundheitlichen Folgen zum Trotz.
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