Bristoler Stadtteil Stokes Croft: „Wir machen unsere eigene Zukunft“
Stokes Croft, das ehemalige Arbeiterviertel der englischen Stadt, entwickelt sich zur alternativen Bürgerrepublik. Das Motto ist: Think Local!
Das ehemals heruntergekommene Arbeiterviertel Stokes Croft im englischen Bristol ist heute ein Stadtteil ohne graue oder schwarze Wände – dafür überall Graffiti. An einer Wand prangt ein Jesus in Breakdance-Position. Nicht weit davon Banksys berühmtes „Mild Mild West“, eine Kritik an den massiven Polizeieinsätzen in England. Etwas die Straße runter steht an einer Wand: „Your Government is trying to fuck you over“.
An einer anderen Ecke prangt über vier Mieter hoch eine grinsende Vogelscheuche, die einen Vögel auf der Hand hält und ihm Tee serviert. Darunter steht: „Für Bob. Ruhe in Frieden“. Gegenüber der Supermarktkette Tesco prangt in großen Buchstaben: „Denke Lokal. Boykottiere Tesco“ und „93 Prozent der lokalen Bevölkerung sagen Nein zu Tesco“.
Die Graffiti von Bob und gegen den Lebensmittelkonzern Tesco sind von dem Graffitikünstler Shaun Sepr. Er malt seit über zehn Jahren an Wände. Shaun sagt, er mag es, mit seiner Umwelt zu interagieren, seine Kunst direkt zur Diskussion zu stellen. Und er mag es, Zeichen zu setzen. Shaun gehört zu einer großen Szene von Künstlern.
Sie malen politische Botschaften, künstlerische Gemälde und machen witzige, satirische Zeichnungen. „Mit dem „Boykottiere Tesco“-Graffito haben wir, glaube ich, etwas erreicht. Es ist dort seit vier Jahren“, sagt Shaun. Graffiti werden sonst schnell wieder übermalt. Shaun versteht sich als Teil einer Gemeinschaft, die den Stadtteil zu einer großen Galerie gemacht hat.
Museen: Ein Blick auf die Karte verrät: Bristol liegt nicht direkt am Meer. Bis zur Mündung des Avon ins Meer sind es circa 18 Kilometer. Und dennoch gehörte die Stadt zu den wichtigsten Hafenstädten in England. Der große Handel endete in den 1970ern. Seitdem wurden Millionen von Pfund in die Regeneration des Hafens und seine neuen Museen investiert visitbristol.co.uk/
Schlafen: The Bristol Hotel, zentral gelegen, bietet mit Blick auf den Hafen DZ ab 100 £ inkl. Frühstück. Zur Hafenseite kann es nachts laut werden.
Essen: Eat a Pita auf dem St. Nicholas Market füllt die Pita-Taschen mit Falafeln, Humus, Salaten und Soßen für 4,50 £. Wer es edler mag: The Glassboat bietet Fine-Dining mit Blick auf den Fluss Avon, ab 13 £.
Der Stadtteil war völlig vergessen
Jamaica Street 35 im Stadtteil Stokes Croft. Ein zweistöckiges Ziegelsteinhaus aus den 60ern. „PRSC The New Building“ ist in gelben Buchstaben auf ein Schild gesprayt. Rechts davon die „PRSC Outdoor Gallery“, eine zehn Meter lange Graffitigalerie. Ein beiges Sofa steht davor, zum Setzen und Innehalten. Weiter rechts im nächsten Gebäude ist ein Geschäft. In schwarzer Schrift steht auf einem Schild „PRSC HQ“. HQ für Headquarter. Im Fenster Porzellanwaren. Tassen, Teller, Teekannen und Schalen. Über dem Geschäft steht: „The Selling Gallery“. Das Geschäft ist Hauptquartier der PRSC, der Peoples Republic of Stokes Croft. Chris Chalkley ist ihr Gründer.
2007 hat Chris Chalkley in Stokes Croft eine eigene Republik ausgerufen. Das klingt verrückt, beeinflusst den Stadtteil seitdem aber sehr stark. Chris Chalkley und die PRSC kennt hier jeder. Es sind 20 sehr aktive Menschen. Doch Chris ist die treibende Kraft. PRSC ist seine Passion, seine Obsession. Wenn man mit ihm sprechen will, muss man das Geschäft verlassen. Es kommen ständig Leute, die Hilfe, Rat, Materialien zum Sprayen brauchen oder einfach von einer Idee erzählen wollen. Gespräche führt er lieber im nebenliegenden Gebäude. Es gehört auch zur PRSC, wurde 1950 gebaut, und früher wurden hier Kutschen produziert.
„2007 sah das hier in Stokes Croft noch ganz anders aus“, erzählt Chris Chalkley. „Der Stadtteil war völlig vergessen. Es gab viele Probleme. Alles, was die Stadt nicht in den trendigen Vierteln haben wollte, baute sie hier.“ Unterbringungen für Obdachlose, Suppenküchen, wenige Geschäfte. Die Bausubstanz war marode, es gab viel Alkoholmissbrauch und viele Drogen. „Die Stadt kam nur, um die Wände grau zu streichen“, schimpft er. Er regt sich auf: über die Stadt, die Globalisierung, das kapitalistische System, über Macht, Neoliberalisierung und ihre katastrophalen Auswirkungen.
Verkaufsschlager die Tasse mit der Queen
Sein Lösungsansatz, die Idee der PRSC: „Gestalte deine eigene Zukunft. Im Lokalen. Ich dachte mir, die süßesten Früchte, wachsen auf dem härtesten Boden. Warum nicht hier beginnen?“, sagt Chris. Er war selbst Globalisierungsopfer. Er verkaufte Porzellanwaren aus England in England. Internationale Unternehmen importierten billiges Porzellan. Die Porzellanmanufakturen in England mussten schließen. Heute gibt es noch eine einzige in Südwestengland. Auch Chris musste sein Unternehmen aufgeben. Er malte ein antikapitalistisches Graffito auf die Wand, die heute die PRSC Outdoor Gallery ist. Damit fing alles an.
„Leute fragten mich: Darfst du das hier hinmalen?“ erzählt er. Er durfte nicht: Die Stadt malte die Wand wieder grau. Er schrieb ein Pamphlet. Stellte es online und gründete mit Freunden und Künstlern die Peoples Republic of Stokes Croft. „Uns war klar, hier macht keiner mehr was. Wir müssen es selbst tun.“
Das Pamphlet ist bis heute unverändert. Die PRSC will einen Nutzen für die Gemeinschaft schaffen, in dem sie die Interessen des Viertels vertritt. Das Lokale verändern. Im Kleinen arbeiten. Eine eigene Republik. Eine soziale Utopie. „Ein Viertel, das gemeinsam seine Angelegenheiten selbst regelt.“ Die PRSC kauft die Gebäude in der Jamaica Street und verkauft dort Porzellan des letzten Herstellers in Südwestengland. Bedruckt sie mit politischen, kritischen und witzigen Aussagen. Der Verkaufsschlager ist eine Tasse mit der Queen und dem Aufdruck „Ich esse Schwäne“. In Großbritannien gehören bis auf wenige Ausnahmen alle Schwäne der Krone. Die Queen darf mit ihnen machen, was sie will. Die Monarchie ist für die PRSC ein Dorn im Auge und Ziel des Spotts.
Die Lebensmittelbewgung entstand
Die Idee gewinnt schnell Anhänger. Die Aktivsten arbeiten mit Graffitikünstlern und Hausbesitzern zusammen. Entwickeln Konzepte zur Identitätsbildung im Viertel: Sie malen alle Mülleimer im Viertel gelb an. Schaffen kleine Plätze zum Sitzen. Errichten eine zweite Galerie auf einem riesigen Verkehrskreisel. Graffitimalen wird ein besonders wichtiges Mittel: „Du kannst ziemlich viel Krach machen mit einem kleinen Pott Farbe“, sagt Chris. Andere Projekte kommen dazu. Ein paar Menschen gründen Coexist, ein soziales Unternehmen, und mieten Hamilton House, einen Komplex mit vier großen Gebäudeblöcken. Jahrelang stand er leer. Jetzt gibt es hier eine Fahrradwerkstatt, eine Kantine, Künstlerstudios, günstige Büros, Yogakurse, Tischtennisplatten und eine Gemeinschaftsküche, in der behinderte und obdachlose Menschen Kochkurse besuchen.
Vier Jahre lang entwickelte sich Stokes Croft. „Dann hat sich Tesco in die Gemeinschaft gepöbelt“, sagt Chris. Tesco, ein multinationales Lebensmittelunternehmen, bekannt für schlechte Arbeitsbedingungen und Dampfwalzenmentalität. Die größte Handelskette in Großbritannien will eine Filiale mitten in dem alternativen Viertel bauen, das seine Wurzeln im Lokalen sieht. Die Lage spitzt sich schnell zu. Es gibt Hausbesetzungen, Shaun malt das Graffito direkt gegenüber auf einer Wand, es folgen mehrere Demonstrationen, und eines Nachts eskaliert die Situation: Es kommt zu brutalen Auseinandersetzungen mit der Polizei, den „Tesco Riots“.
„Die Demonstrationen, die dann in Randale endeten, waren mehr als nur Gewalt“, sagt Chris. Tesco hat der Gemeinschaft seinen Willen aufgezwungen. Die Menschen hatten etwas entwickelt, aufgebaut. Die Straßen waren dominiert von lokalen kleinen Geschäften und Anbietern. Sie wurden durch Tesco bedroht. Am Ende baut der Konzern seine Filiale wider alle Proteste. „Doch uns wurde klar, wie wichtig jetzt Alternativen werden“ sagt Chris.
Eine zweite Bewegung kommt zustande. Eine Lebensmittelbewegung. Überall in Stokes Croft entstehen kleine Läden und Restaurants. Sie beziehen alle Produkte von Bauern aus der Region, wenn möglich Bioprodukte.
Ethisch vertretbar, nachhaltig, lokal
Ein Restaurant davon ist Katie and Kim’s Kitchen. Katie und Kim haben das kleine Restaurant vor sechs Monaten eröffnet. Zuvor hatten sie aus einem alten Pferdewagen frische Scones auf der Straße verkauft. Viele kennen sie aus dieser Zeit. Nun gibt es hier Scones, Milchbrötchen, Suppen und belegte Sandwiches. „Wir verarbeiten, was die Bauern gerade im Angebot haben“, sagt Kim. Beide sind Mitte 20, wirken aber viel jünger. Sie bleiben nie stehen, wenn sie reden.
Ständig muss etwas geknetet, gerührt oder aus dem Ofen geholt werden. In dem großen Raum gibt es nur einen großen Tisch. Wie an einer Tafel setzt man sich einfach dazu. Smartphones sind verboten. Die Küche ist nicht abgetrennt. „Essen und Kochen ist etwas Soziales. Das wollen wir hier leben“, sagt Katie, während sie Früchte für eine Marmelade schneidet.
Elise ist oft hier. Sie sitzt am Tisch, trinkt einen heißen Kakao und philosophiert über diese neue Lebensmittelbewegung: „Ethisch vertretbar, nachhaltig, lokal, organisch und aus der Region, das ist das Ziel“. Gerade entwickelt sie mit einer Freundin neue Konzepte, um Essen mit Musik zu verbinden. „Wir wollen die Geschwindigkeit aus dem Essen nehmen.“ In der Zukunftswerkstatt Stokes Croft ist vieles machbar.
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